Das Sonnentau-Kind
klangen sie immer noch irgendwie unglaubwürdig. Ein bisschen Wehmut schwebte schon mit, als Mandy Sachsen-Anhalt sagte. Und Wencke war sich sicher, auch Aurel hatte seine Heimat geliebt.
Wenckes Handy piepte, sie dankte Mandy kurz für die Auskunft und ging auf den Hof.
Es war Kerstin von der Spurensuche. «Wencke? Ich weiß, du hast heute frei, aber wir haben eben das Fahrrad unter die Lupe genommen und etwas Interessantes gefunden. Und da ich ja weiß oder vermute, dass diese Aktion hinter Sanders’ Rücken angeleiert wurde, wollte ich dir das Ergebnis lieber persönlich sagen.»
«Du bist ein Schatz, Kerstin. Und nun mach es nicht so spannend!»
«Also …», zog sie es natürlich in die Länge. «Erst einmal: Wir haben jede Menge Erde im Reifenprofil gefunden, welches darauf schließen lässt, dass der Junge oft im Moor unterwegs gewesen sein muss. Im Hochmoor, genau genommen.»
«Das könnt ihr so genau differenzieren?», fragte Wencke ungläubig.
«Ja, noch mehr als das. Moore unterscheiden sich in ihrem Säuregehalt und in ihrer Beschaffenheit zwar nur minimal, doch da sie sich im Gegensatz zu anderen Böden noch in einer Art lebendigem Zustand befinden, sind sie wunderbar zu unterscheiden. Jedes Moor ist anders, individuell, quasi wie ein Fingerabdruck. Seit dem Vermisstenfall vom Penny- Fundament haben wir ja bei uns jeden Kubikzentimeter Ostfrieslands im Archiv, deswegen weiß ich sogar, dass Aurel Pasat in der Gegend um das Große Meer unterwegs gewesen sein muss.»
«Dann hat dieses Penny -Fundament ja wenigstens noch einen anderen Sinn, als uns als ABM zu dienen.»
«Was aber komisch ist, Wencke, und jetzt pass auf: Im Reifenprofil war auch Erde des Waldbodens enthalten, der der am Fundort gleicht. Jedoch klebte er unter der Moorerde.»
«Was heißt das?»
«Aurel Pasat ist erst im Wald unterwegs gewesen und dann im Moor. Aber anschließend muss er oder sonst jemand sein Fahrrad getragen haben, denn nach dem Ausflug zum Großen Meer sind die Reifen nirgendwo mehr drübergerollt.»
«Aha … Aber warum sollte er das getan haben? Es macht keinen Sinn.»
«Das Warum ist dein Job, Wencke. Ich weiß nur, dass die Reifen in Ordnung waren, also kein Plattfuß, und auch sonst war das Mountainbike in fahrbereitem Zustand. Ach, und bei Proben aus seinen Schuhsohlen traten die beiden Bodenarten in der richtigen Reihenfolge auf. Also, zu Fuß war er nach dem Moor auch noch im Wald unterwegs. Und der Staub aus der Lagerhalle passt dazu. Fingerabdrücke haben wir außer denen des Toten am Fahrrad auch keine gefunden, wohl aber Baumwollfasern und Wischspuren, die darauf schließen lassen könnten, dass Spuren beseitigt werden sollten. Sie können aber auch vom letzten Fahrradputz stammen, das Mountainbike war sehr gepflegt.»
Wencke hing in ihren Gedanken fest und versuchte sich auszumalen, was an diesem Tag, an Aurels Todestag, passiert sein mochte. «Er schleppt doch nicht sein geliebtes Mountainbike durch die Gegend, wenn es ihm ohnehin schon so schlecht ging. Und dann trinkt er noch nicht einmal etwas. Das passt nicht.»
«Ach ja, das Getränk. Die zweite Merkwürdigkeit.»
Wencke hielt die Luft an und sagte nichts.
«Destilliertes Wasser!»
«Wie bitte?»
«Ja, die Trinkflasche war mit destilliertem Wasser gefüllt, wie man es in jedem Supermarkt kaufen kann, für Autobatterien oder Dampfbügeleisen oder so, der Zweiliterkanister für ein Euro irgendwas.»
«Aber stirbt man denn nicht, wenn man destilliertes Wasser trinkt?»
Kerstin lachte am anderen Ende der Leitung ihr trockenes, kluges Wissenschaftlerinnenlachen. Sie war eine wunderbare Kollegin, und Wencke nahm sich fest vor, sie nach der ganzen Geschichte mal zu sich nach Hause zum Essen einzuladen. Dann könnte sie ja auch ihr Kind mitbringen.
«Das ist einer der Mythen aus dem Schulunterricht. Ich weiß, auch mein Biolehrer hat mit erhobenem Zeigefinger gesagt, wenn ihr das Zeug trinkt, platzen die Blutkörperchen, wegen des osmotischen Effekts.»
«Genau, Osmose …», bestätigte Wencke, denn dieser Begriff war ihr gleich in den Sinn gekommen.
«Ja, das geht aber nicht. Das ist total übertrieben. Man müsste destilliertes Wasser schon intravenös verabreichen, wenn man irgendetwas zum Platzen bringen will.»
«Aber wenn man es trinkt, dann …»
«Dann wird man vielleicht ein bisschen wackelig auf den Beinen. Das Aqua destillata entzieht dem Körper Nährstoffe, saugt ihn leer sozusagen. Und dann noch in Kombination mit Sport,
Weitere Kostenlose Bücher