Das Sonnentau-Kind
über ihr kitzelten im Nacken. Kerstins Anruf hatte alles umgeworfen. Was hatte das zu bedeuten?
Weniger die Sache mit Kerstin und Axel, darüber – und warum es sie eigentlich wurmte, dass die Kollegin an ihm Interesse hatte – würde sie später einmal nachgrübeln müssen.
Vielmehr waren die Spuren am Fahrrad und das destillierte Wasser etwas, worüber sie sich den Kopf zerbrechen sollte. Es veränderte alles. Es stellte alle bisherigen Indizien und Beweise in den Schatten. Denn nun war es eindeutig, unumstößlich, noch nicht einmal von Axel Sanders ignorierbar: Sie, Wencke, hatte die ganze Zeit recht gehabt, als sie gegen die Voreiligkeiten ihrer Kollegen gewettert hatte.
Es bedeutete, dass jemand Aurel Pasats Gesundheit beeinträchtigen wollte. Dass jemand destilliertes Wasser in seine Trinkflasche gefüllt hat, um ihn zu schwächen. Und wahrscheinlich ebendieser Jemand ihn im Hochmoor beim Großen Meer getroffen hatte und dann mit ihm gemeinsam – das Fahrrad im Schlepptau – zu diesem Lager im Wald zurückgekehrt ist. Und dort dem wahrscheinlich völlig desolatem Aurel eine Schlinge um den Hals gelegt hat. Ging das überhaupt? Und wenn ja, warum? Und wer?
Wer kannte Aurel Pasat so gut, dass er seine Gewohnheiten derart hinterhältig für sich zu nutzen wusste? Die Menschen auf dem Heiliger-Hof. Annegret Helliger schied aus, sie war in den Tagen vor Aurels Tod auf Spiekeroog unterwegs gewesen. Blieben also noch die Sachsen-Anhalterin Mandy, der Holländer und Sebastian Helliger. Alle drei hätten auch die Gelegenheit gehabt, einen Abschiedbrief zu türken, wie auch immer sie die Sache mit der Handschrift gelöst haben mochten. Körperlich waren aber zweifelsohne nur der Hausherr und sein Knecht in der Lage, den Mord zu begehen.
Und wer hatte überhaupt ein Motiv? Gut, es konnte sein, dass Mandy unglücklich verliebt gewesen war. Das Geheule vor zwei Tagen war schon herzergreifend gewesen. Doch heute schien sie bereits das Schlimmste verdaut zu haben.
Über diesen Holländer wusste Wencke im Grunde gar nichts. Er schien wirklich nur ein Handlanger zu sein, kräftig und fleißig, dem Chef verpflichtet. Sollte er ein Motiv haben, so wäre es Wencke jedoch bislang gänzlich unbekannt, es sei denn, er war auch hier so dienstbeflissen und erledigte, was der Boss ihm an Aufträgen gab. Der Boss, ja, Sebastian Helliger hatte als Einziger ein Motiv, eines der klassischen Mordmotive überhaupt: Eifersucht. Der Jüngling war in seine Frau verliebt, diese geriet ins Schwärmen über einen gefühlvollen Liebesbrief … Aber würde ein gestandener Mann in Helligers Alter, einigermaßen vermögend und Vater zweier Kinder, wegen einer harmlosen Gefühlsverirrung eines Halbwüchsigen diesen eiskalten Mord planen und durchführen? Nein, das schien nur wenig glaubwürdig.
Vielleicht hatte Aurel Pasat dort im Hochmoor etwas entdeckt, was Helliger lieber geheim gehalten hätte. Eventuell eine Liaison? Mit Mandy, dem Dienstmädchen? Das klang eher nach Großbritannien und Miss Marple als nach Ostfriesland und Wencke Tydmers, fand Wencke.
Endlich trafen die Leute von der Spurensicherung ein. Wencke führte sie in Aurels Zimmer und zeigte ihnen den Mineralwasserkasten, den sie sogleich inspizierten. «Ergebnis in einer guten Stunde», versprachen sie.
«Ich habe noch zu tun. Ihr kommt doch zurecht, oder?» Die Kollegen nickten.
Wencke lief in den Hof, schnappte sich ihr Fahrrad und fuhr in Richtung Moormuseum. Sie hatte entschieden, dass Annegret Helliger die richtige Person war, die ihre neu aufgeworfenen Fragen beantworten konnte.
Denn wahrscheinlich war sie es, um die sich hier alles drehte.
Teestube Moormuseum gemütliches Klappern von Porzellan
«Noch eine Tasse, Frau Helliger? Sie wissen, drei Tassen sind Ostfriesenrecht.»
Annegret mochte sich nicht vorstellen, wie oft am Tag die Teestubenbesitzerin Marianne diesen Satz sagte. Immerhin war beinahe jeder Tisch im Raum besetzt. Die meisten waren augenscheinlich Touristen, die es liebten, wenn sie zwischen blau-weißen Fliesen, Backstein, Holz und maritimen Utensilien ihren ersten originalen Ostfriesentee auf einem Messingstövchen serviert bekamen. Sie hielten sich strikt an die traditionellen Anweisungen – erst den Kandis, dann den Tee, zum Schluss die Sahnewolke, und nicht umrühren –, versuchten sich im Plattdeutschen, sagten «Moin» auch am späten Vormittag.
Annegret hatte im Grunde einmal als eine von ihnen angefangen, als sie mit Mitte zwanzig das
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