Das Sonnentau-Kind
Hütte eingezogen. «Dennis, bleib stehen!» Doch der Rotzlöffel überhörte den Befehl und rannte weiter den verschlungenen Weg entlang. «Herbert, mach doch mal diese Scheißkamera aus und kümmere dich um deinen Sohn!»
«Das kommt alles mit auf den Film!», warnte dieser und ignorierte – ganz Vorbild für den ungehorsamen Sprössling – ebenso die Aufforderung des Hausdrachens.
Wencke nahm sich fest vor, niemals eine solch griesgrämige Mutter zu werden wie die von Dennis, komme, was wolle. Vielleicht hatte sie Glück und Emil blieb das friedliche und sonnige Kerlchen, das er war. Auch wenn sie als Mutter nicht viel zu Hause sein würde, es bestand doch immerhin die Hoffnung, dass er einigermaßen wohlerzogen auf die Anweisungen seiner Erziehungsberechtigten hören würde. Und nicht wie dieser nervtötende Lausebengel einfach weiterlief, einfach in die nächste Hütte, in diesen Haufen aus alten Grassoden, eine wirklich ärmliche Moorbude, als sei hier der richtige Ort zum Versteckspielen. Und dann zu brüllen begann.
Ohrenbetäubend, man wollte meinen, das Erdhaus würde von seinem Geschrei im nächsten Moment in sich zusammenbrechen. Allmächtiger, lass Emil niemals zu einem solchen Minimonster mutieren, flehte Wencke kurz, doch dann merkte sie im selben Moment, dass etwas nicht stimmte, dass der kleine Junge einen Grund zu haben schien, wie am Spieß zu kreischen. Er kam mit erhobenen Händen aus dem Grassodenhaus, sein Kopf war knallrot, und die ersten Tränen rollten über seine Wangen. «Mama! Mama!»
Wencke rannte los. Hatte Marianne nicht gesagt, dass Annegret Helliger dort bei dieser Hütte gewesen war? Was hatte den kleinen Dennis zu Tode erschreckt? Im Augenwinkel nahm sie wahr, wie er über seine kurzen Beine stolperte und lang auf den Boden schlug. Wencke blieb nicht stehen, sollte sich die Mutter darum kümmern, sie lief weiter, sie musste sehen, was passiert war in dieser grünbraunen Behausung. Sie duckte sich, denn obwohl Wencke selbst nur gerade einen halben Kopf größer als anderthalb Meter war, war der Eingang für sie zu niedrig. Im Inneren war es dämmrig, auch wenn durch kleine Spalten in Wand und Decke etwas vom Sonnenlicht in die Hütte fiel. Eine Schlafstätte aus Stroh, ein Grund aus Lehm und … eine Frau am Boden. Das lockige Haar breitete sich auf der Erde aus, die Haare waren in dunkler Flüssigkeit getränkt, der Wencke sofort ansah, was es war. Nur Blut sickerte auf diese Art, träge, dunkel und satt, einen metallischen Geruch verbreitend. Der Kopf von Annegret Helliger war seltsam verrenkt, ihre Augen schreckhaft geöffnet. Sie sah tot aus. Richtig tot, im Vergleich zu Aurel Pasat, der noch so lebendig gewirkt hatte, vor zwei Tagen am frühen Morgen dort in diesem Waldlager. Doch sie täuschte sich wieder einmal. Vielleicht war es der Schock, Wencke war auf diesen Anblick nicht vorbereitet gewesen, vielleicht war es auch einfach diese unmögliche Stellung, in der die Frau des Moorkönigs dort auf dem schmutzigen Boden lag. Doch auf einmal bewegte sich etwas, die Lider der blicklosen Augen schlossen sich kurz, wollten reflexartig die Netzhaut befeuchten. Und der Brustkorb, den man in der verschraubten Körperlage fast gar nicht ausmachen konnte, senkte und hob sich kaum wahrnehmbar. Sie lebte. Wencke löste sich aus ihrer Erstarrung. Sämtliche Kniffe der Ersten Hilfe kamen ihr in den Sinn. Blutung stillen, stabile Seitenlage, wenn keine erkennbare Verletzung der Wirbelsäule zu befürchten war, die Verletzte ansprechen … Es war wahrscheinlich nicht die richtige Reihenfolge, in der sie vorging, doch es geschah instinktiv, und sie war froh, überhaupt handlungsfähig zu sein.
«Frau Helliger? Hören Sie mich? Ich bin es, Wencke Tydmers, die Frau von der Kripo.»
Keine Reaktion. Obwohl die Augen geöffnet waren, schien Annegret Helliger das Bewusstsein verloren zu haben. Und dass Schwerverletzte in solchen Augenblicken wichtige Hinweise auf den Täter stammelten, aussagekräftige Wortfetzen in die Ohren des Ersthelfers flüsterten, dies war leider nur eine Sache, die in Fernsehserien oder Kinofilmen passierte. In Wahrheit lässt der Kampf um Leben und Tod keine Gelegenheit für solche Dinge. Und diese Frau war dabei, zu sterben, hier in Wenckes Schoß. Wenn nicht bald etwas geschah. Wencke blickte sich um. Der Familienvater stand gebückt im Eingang. Er hatte zum Glück seine beschissene Kamera sinken lassen und stattdessen ein Handy in der Hand. Draußen heulte noch
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