Das Sonnentau-Kind
Holzwerkzeug zu Boden fallen, es landete genau vor meinen Augen. Ich hatte schreckliche Angst, er würde mich jetzt entdecken und dasselbe mit mir anstellen, doch er drehte sich um, atmete tief durch und ging hinaus.
Ich blieb viele Minuten liegen, bis ich endlich die Kraft hatte, mich aufzusetzen. Mir war klar, dass ich unter Verdacht geraten würde. Mir war klar, so kaltblütig könnte ich niemals einen Menschen erschlagen, aber dennoch würde ich in diesem Fall die beste Mörderin abgeben.
Eine Geschichte vom unbekannten Mann glaubt einem keiner. Schon gar nicht, wenn man ein Straßenkind ist.
Deswegen renne ich davon. Die Polizisten waren freundlich, sie haben mich nicht gefesselt, die haben sich Mühe gegeben, meinen vorgetäuschten Schlaf nicht zu stören. Doch ich traue ihnen nicht. Ich traue niemandem mehr.
Seit ich weiß, dass Aurel tot ist, seit ich beobachtet habe, wie diese Frau erschlagen wurde – hier in einem Land, das so freundlich und sauber ist –, seitdem traue ich niemandem mehr.
Wohin ich renne, weiß ich nicht. Es ist kein richtiger Weg. Ich halte mich auch nicht geradeaus, sondern laufe im Zickzack durch diesen Wald. Ich höre außer meinem Atem und dem Tritt meiner Füße auf trockenen Ästen nicht viel. Ein paar Vögel, ein Flugzeug ganz weit oben, weit entfernt das Rauschen einer Straße. Doch dann erkenne ich die Stimmen. Leise, schwach und unmenschlich. Es sind nur wenige, sie weinen. Es sind Kinder. Ein Kind schreit.
Ich biege vom Pfad ab und schiebe einige Äste auseinander. Zwischen den schwarz-weißen Holzstämmen dieser dünnen Bäumchen mit den hellgrünen Blättern ist der Boden feucht, meine Füße spüren warme Nässe durch die undichten Sohlen hindurch. Ich schaue nach unten, die Erde ist dunkel, fast schwarz. Ich gehe weiter und achte darauf, kein Geräusch zu machen. Es ist taghell, und doch habe ich das Gefühl, so wachsam, vorsichtig, auf der Hut sein zu müssen wie in den dunklen Nächten in den Straßen Arads. Es ist diese Ahnung von Gefahr. Ich denke, vielleicht ist es auch ein Instinkt. Ich muss an meine Familie denken, meine Kinder, für die ich verantwortlich bin. Mein Messer liegt in Rumänien. Meine Helfer Iancu und Victor sind ebenfalls weit weg. Ich bin allein. Und ich weiß, es ist ernster als jemals zuvor.
Ich bin mir sicher, sie haben Aurel ermordet, weil er etwas gefunden hat. Und ich befinde mich nun direkt in seiner Spur. Es ist, als würde ich seinen Schatten noch berühren.
Als ich die nächsten Zweige zur Seite schiebe, sehe ich den Lkw. Die Türen sind geöffnet, ich schaue in die gähnende Dunkelheit des leeren Laderaums. Der Motor ist ausgestellt. Kein Mensch ist zu sehen. Der riesige Wagen parkt unter einem großen Baum. Ich überlege, wie dieses Monstrum mit den riesigen Rädern hierher gefunden hat. Auch an dieser Stelle ist der Boden weich, die Reifen versinken eine halbe Armlänge im Schwarz. Der wird nie wieder davonrollen können, der sitzt auf ewig fest. Die Tür zum Fahrerhaus ist geöffnet. Niemand sitzt dort.
Ich schleiche mich zum vorderen Teil des Lastwagens, ducke mich, als ich am Gitter zwischen den Scheinwerfern vorbeihaste. Warum steht der hier? Die Kinderstimmen werden lauter. Sie brabbeln mehr, als dass sie sprechen. Doch die wenigen Worte, die verständlich zu mir herüberwehen, sind – rumänisch.
Ich habe sie gefunden. Mein Herz setzt aus, fünf, sechs Sekunden, und beginnt dann mit einem Donnergetöse zu schlagen, es pumpt mir den Speichel in den Mund, es tut fast weh, das Pochen hinter meinen Augen. Ich habe sie gefunden. Mein Bruder. Ist er hier? Ist Ladislaus hier?
Jetzt schaffe ich es, mich fortzubewegen. Es ist kein Rennen mehr, eher ein Stolpern. Immer den Geräuschen nach. Zu den Stimmen der Kinder mischen sich tiefere Töne, Männer, sie reden deutsch, sie schimpfen nicht laut, aber dennoch bedrohlich. Hinter einem Busch, von dem die sonnengelben Blüten zu tropfen scheinen, verberge ich mich. Sind das Schläge? Dieses dumpfe Knallen, rhythmisch, danach spitze Schreie, Angstgeräusche, auch das heftige Atmen ist inzwischen zu hören, ich bin nah genug dran. Direkt vor mir tritt ein Mann durch die feuchte Erde. Er ächzt. Als ich einen Blick durch die Blätter wage, sehe ich, er trägt ein Kind über der Schulter. Das Mädchen hat langes Haar voller Schmutz, so schlimm sehen noch nicht einmal die schmutzigsten Kinder in den Straßen Arads aus, die Augen sind halb geöffnet, die Pupillen nach oben verdreht.
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