Das Sonnentau-Kind
Entweder ist sie tot oder betäubt, ich weiß nicht, was ich ihr mehr wünschen würde. Sie bemerken mich nicht, als sie vorbei sind, sehe ich, dem Mädchen fehlen beide Füße. Ihre stummeligen Beinenden schlackern bei jedem Schritt hin und her. Die narbige Haut ist verhornt und voller Dreck. Wenn sie nicht getragen wird, läuft sie auf diesen Stumpen, denke ich. Wie es wohl aussieht? Schief und krumm und viel zu kurz. Bemitleidenswert für Menschen, denen es gut geht.
Hat Aurel das gesehen? Hat er davon gewusst? Wenn ja, warum hat er nicht gleich eingegriffen und dieses Mädchen befreit?
Ein zweiter Mann kommt in meine Richtung, er hat die Hände in den Hosentaschen, ganz tief, als seien sie dort verwachsen. Ich habe ihn schon einmal gesehen, heute bei diesem Museum, er sieht freundlich aus und traurig. Ich weiß, er hält die Hände verborgen, weil er eigentlich nichts zu tun haben will mit dem, was hier gerade passiert.
Was passiert hier denn eigentlich?
Ich habe den Polizisten von Ladislaus und den anderen Kindern erzählt, von Aurels Vermutung, dass sie nach Deutschland verschleppt wurden. Wir sind dann ziemlich schnell in diese Gegend gefahren. Es ist klar, sie wollen das Lager finden.
Konnte es denn wirklich sein, dass niemand zuvor von dieser Sache gewusst hat? War dieser Ort so geheim, dass man Kinder – den Stimmen nach waren es nicht wenige –, dass man diese Kinder hier unterbringen konnte, ohne dass ein Mensch es mitbekam? Was war das für ein Stück Erde hier? Oder schauten die Leute einfach nicht richtig hin?
Ich wage mich einen Schritt weiter voran, schiebe mich eng an einem Baum entlang und renne ein kurzes, ungetarntes Stück hinüber zu dem Wald aus hohen Gräsern, die sich ausbreiten und ein besseres Versteck bieten. Jetzt sehe ich das Lager. Ein Holzhaus mit schiefem Dach, die Fenster sind neu und nicht zerbrochen, an einer Seite lehnt sich die Wand gegen einen Hügel aus dunkler Erde. Bänke stehen vor der Tür, Tische, und es gibt sogar eine Fläche aus Sand, in der bunte Spielsachen liegen. Es sieht nicht so schrecklich aus wie in meiner Phantasie. Es wäre sogar ein hübscher Ort, wäre da nicht dieser Zaun, mannshoch mit spitzen Metallenden und einem Draht, der an den Pfählen in farbigen Stromverteilern endet. Dieses Gitter macht den Platz zum Gefängnis. Eine Schaukel hinter Stacheldrahtspiralen. Ein Fahrrad lehnt an einem Holzverschlag, daneben steht ein Kettenhund mit wachsamem Blick, der beobachtet, wie seine Schützlinge nach und nach aus dem Haus getragen werden.
Ein dicker Junge mit verbranntem Gesicht läuft freiwillig hinter dem kräftigen Mann her, der bereits wieder ein Kind, diesmal einen verkrüppelten Jungen, geschultert hat.
Der dünne Mann mit den Händen in den Hosentaschen schaut traurig ins Innere des Hauses. Dann spricht er Rumänisch, fast erschrecke ich, seine leisen, aber eindringlich gesprochenen Worte zu verstehen: «Es tut mir leid. Es geht nicht anders. Wir werden einen neuen Platz finden.»
Ein Junge kommt heraus. Obwohl ich sicher zwanzig Meter von ihm entfernt bin, kann ich seinen zutiefst verschreckten Gesichtsausdruck erkennen. Er hat keine Haare, keine Augenbrauen, seine Lider sehen nackt aus. Das lässt ihn krank wirken. Sonst kann er aber gerade stehen. «Bringen Sie uns nach Hause?», fragt er. Es klingt, als fürchte er sich.
Ich überlege, wovor er Angst hat. Dass die Antwort Nein lautet – oder Ja? Ich weiß, er meint mit seiner Frage, ob sie zurück nach Rumänien fahren. Doch will er das überhaupt? Wo ist sein Zuhause?
Als der Mann mit dem Jungen und zwei anderen Kindern in Richtung Lkw verschwindet, nehme ich meinen Mut zusammen. Ich bin nie besonders ängstlich gewesen. In Arad bringt einen die Angst um, da kann man es sich nicht erlauben, zögerlich zu sein. Doch hier, nach den letzten Stunden und Tagen, entdecke ich dieses längst vergessene Gefühl wieder, wenn man sich wünscht, ganz woanders zu sein, an einem sicheren Ort, ohne Panik, gesehen, entdeckt und geschnappt zu werden. Es kostet mich mehr Überwindung als fast alles, was ich bislang in meinem Leben gemacht habe, denn ich ahne neben der Gefahr auch einen Anblick, der mich verstören wird. Vielleicht ist er da, mein Bruder, den ich so liebe, der mich aber wohl kaum wiedererkennen wird. Er hat mich nie wirklich wahrgenommen, obwohl ich ihm einmal so nah gewesen bin. Er hat mich zum Überleben gebraucht und dennoch kaum Notiz von mir genommen. Seinetwegen habe ich diese
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