Das soziale Tier
gewöhnlich die Sklaven längst verstorbener Ökonomen.« 17 Die Menschen, mit denen Erica nun zusammenarbeitete, waren die Sklaven einer langen philosophischen Tradition. Diese Tradition, der Rationalismus, erzählt die Geschichte der Menschheit als die Geschichte des Fortschritts des logischen, bewussten Geistes. Sie fasst die Menschheitsgeschichte als einen Wettstreit zwischen der Vernunft, der höchsten menschlichen Fähigkeit, und den Leidenschaften und Instinkten, unserer tierischen Natur, auf. In der optimistischen Version dieser Geschichte triumphiert die Vernunft nach und nach über unsere Gefühle. Die Wissenschaft tritt allmählich an die Stelle der Mythen. Die Logik setzt sich gegen die Leidenschaften durch.
Diese historische Erzählung beginnt gewöhnlich im alten Griechenland. Platon glaubte, die Seele bestehe aus drei Teilen: Vernunft, Mut und Begierde. Die Vernunft strebt nach Wahrheit und will das Beste für den ganzen Menschen. Der Mut strebt nach Anerkennung und Ruhm. Die Begierde strebt nach Lustgewinn. Platon vergleicht die Vernunft mit einem Wagenlenker, der seine beiden wilden und sehr verschiedenartigen Pferde bändigen muss. »Wenn nun die besseren Teile der Seele, welche zu einem wohlgeordneten Leben und zur Liebe der Weisheit hinleiten, den Sieg erlangen«, schreibt er, »so führen sie hier schon ein seliges und einträchtiges Leben, sich selbst beherrschend …« 18
Im klassischen Griechenland und Rom, so geht diese Erzählung weiter, machte die Vernunft große Fortschritte. Nach dem Fall Roms aber setzten sich die Leidenschaften wieder durch. Europa fiel ins dunkle Mittelalter. Die Bildung verfiel, die Wissenschaft lag brach, der Aberglaube florierte. In der Renaissance kam es dann mit dem Entwicklungsschub in den Naturwissenschaften und den Neuerungen in der Buchführung wieder zu einer Stärkung der Vernunftkräfte. Im 17. Jahrhundert erfanden Naturwissenschaftler und Techniker neue Maschinen, und Denker stellten neue Gesellschaftstheorien auf. Bedeutende Forscher begannen die Welt mit analytischen Methoden zu erfassen. Die Metapher »Die Welt ist eine Maschine« begann die Metapher »Die Welt ist ein lebender Organismus« zu ersetzen. Die Gesellschaft wurde oft mit einer Uhr aus Millionen beweglicher Teile verglichen, und Gott war der Himmlische Uhrmacher, der Schöpfer eines vollkommen rationalen Universums.
Bedeutende Geister wie Francis Bacon und René Descartes schufen eine neue Denkweise – die naturwissenschaftliche Methode. Descartes wollte die Wissenschaften von Grund auf erneuern. Er wollte jede wissenschaftliche Aussage am Maßstab der kritischen Vernunft und Logik prüfen, um herauszufinden, welche Sätze wahr und gewiss waren. Er wollte die menschliche Erkenntnis auf eine logische Grundlage stellen. In diesem wissenschaftlichen Zeitalter könne man der Vernunft, so Bacon, nicht freien Lauf lassen, vielmehr müsse sie bei jedem Schritt angeleitet werden. 19 Was gebraucht wurde, waren ein »sicherer Plan« und eine neue, zuverlässige Methodik.
Für diese neue Denkweise muss der Philosoph und Wissenschaftler zunächst einmal seinen Geist von Vorurteilen, Gewohnheiten und früheren Überzeugungen reinigen. Er muss eine sachliche, nüchterne Distanz zum Gegenstand seiner Untersuchung entwickeln. Probleme müssen in ihre Einzelteile zerlegt werden. Er muss gewissenhaft und methodisch verfahren, mit dem einfachsten Element des Problems beginnen und sich dann Schritt für Schritt zum Komplexen vorarbeiten. Er muss eine wissenschaftliche Sprache entwickeln, die, anders als die Alltagssprache, weder vage noch mehrdeutig ist. Das Ziel der gesamten Methode besteht darin, zu bestimmten gesetzmäßigen Verallgemeinerungen über das menschliche Verhalten zu gelangen – Gewissheit und Wahrheit zu erreichen.
Die wissenschaftliche Methode brachte Stringenz dorthin, wo ehedem Vermutung und Intuition herrschten. Auf dem Gebiet der Physik, der Chemie, der Biologie und der anderen Naturwissenschaften waren ihre Erfolge atemberaubend.
Rationalistische Methoden wurden unweigerlich auch auf die Wissenschaft von der Organisation der Gesellschaft angewandt, damit der Fortschritt im gesellschaftlichen Bereich genauso eindrucksvoll sein könnte wie der wissenschaftliche Fortschritt. Die Philosophen der französischen Aufklärung stellten eine große Enzyklopädie zusammen, die das gesamte Wissen der Zeit in einem Nachschlagewerk ordnete. So schrieb Dumarsais in der Enzyklopädie: »Die
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