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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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die Hysterischen Tussen unweit der Tür, während die Pickeligen Jungrocker hoffnungsfroh ganz in ihrer Nähe rumhingen. Die Neo-Hippies drückten sich neben dem Glasschrank mit den Pokalen herum; die »Normalen« saßen an den Tischen beim Schwarzen Brett, gleich rechts neben einer Mischung eher randständiger Gruppen: der Hanf-Brigade und den Pazifik-Gangstern – Kids asiatischer Abstammung, die vorgaben, ihre Hausaufgaben nicht zu machen.
    Aus jeder dieser Gruppen zählte Harold zwei bis drei Leute zu seinen Facebook-Freunden, denn seine Geselligkeit machte ihn beim Rest der Schule zu einem Botschafter aus dem Reich der Athletischen Jungs. Einen Großteil der Mittagspause verbrachte er damit, in der Cafeteria herumzuschlendern und Grüße nah und fern auszutauschen. Im ersten Schuljahr trieb er sich mit denjenigen herum, die gerade in der Nähe waren. Im zweiten und dritten Jahr war er eng in seine Clique eingebunden, aber in der Abschlussklasse löste er sich mehr und mehr davon, sowohl weil er sich mit denselben alten Freunden langweilte, als auch weil er sich in seiner Identität so stark gefestigt fühlte, dass er Kontakt zu unterschiedlichsten Menschen suchte und genoss.
    Man konnte förmlich sehen, wie sich seine Körperhaltung veränderte, wenn er durch die Cafeteria von Tisch zu Tisch schlenderte, von einer kognitiven Umgebung zur nächsten, wobei er sich an den Jargon und die sozialen Rituale der jeweiligen Clique anpasste. Wenn er mit den Überfliegern zusammen war, die sich in allzu vielen außerschulischen Aktivitäten verzettelten und immer auf dem Sprung waren, verfiel er mit ihnen in eine Stimmung der Rastlosigkeit. Dem Anführer der schwarzen Schülergruppe legte er seinen Arm um die Taille und riss einen jener Witze mit rassistischem Unterton, bei denen Erwachsene vor Anspannung ganz steif werden, während sie Schülern nichts auszumachen scheinen. Die sportlichen Typen aus dem ersten Highschool-Jahr, die das Mittagessen auf dem Boden in der Nähe der Umkleideräume einnahmen, zeigten sich ihm gegenüber unterwürfig, und daher behandelte er sie freundlich. Die Eyeliner-Girls, die eine Schutzmauer aus galliger Herablassung kultivierten, blickten dieses eine Mal heiter aus der Wäsche.
    »Wahre Größe besitzt derjenige, der allen Menschen das Gefühl gibt, groß zu sein«, schrieb der britische Schriftsteller G. K. Chesterton. Überall, wo Harold auftauchte, versprühte er gute Laune. Eine Gruppe von Jugendlichen konnte mit gebeugtem Kopf in einem Kreis sitzen und einander schweigend SMS schickten, doch tauchte plötzlich Harold über ihnen auf, blickten sie alle freudestrahlend zu ihm hoch. »Hallo Bürgermeister!«, rief einer von ihnen scherzhaft, bevor Harold weiterging, denn er war mittlerweile bekannt für diese Art von »Stimmenfang« in der Cafeteria.
    Soziale Intuition
    Harold konnte einen flüchtigen Blick auf die Menschen in einem Raum werfen und dabei unwillkürlich eine Vielzahl kleiner sozialer Dynamiken erfassen. Wir alle haben eine bestimmte Methode, um ein Meer von Gesichtern abzutasten. So wird der Blick der meisten Menschen an einer rothaarigen Person hängenbleiben, weil wir instinktiv vom Ungewöhnlichen angezogen werden. Viele Leute glauben, dass Menschen mit großen Augen und Pausbacken schwächer und unterwürfiger sind, als es tatsächlich der Fall ist. 3 (Vielleicht kompensierte man diesen Eindruck im Zweiten Weltkrieg und im Koreakrieg dadurch, dass Soldaten mit Babygesicht viel häufiger mit Tapferkeitsmedaillen ausgezeichnet wurden als Soldaten mit kantigeren Gesichtszügen.)
    Harold konnte intuitiv erfassen, welche Gruppen Drogenkonsum erlaubten und welche nicht. Er wusste, welche Gruppen das Hören von Country-Musik tolerierten und welche Gruppen darin einen Grund zum symbolischen Verstoßen sahen. Er wusste, mit wie vielen Jungs ein Mädchen pro Jahr in jeder Gruppe gehen konnte, ohne als Schlampe zu gelten. In manchen Gruppen waren es drei, in anderen sieben.
    Die meisten Menschen unterstellen unwillkürlich, dass die Gruppen, denen sie nicht angehören, homogener sind als die Gruppen, denen sie angehören. 4 Harold dagegen verschaffte sich Insider-Einblicke in die Dynamik von Gruppen. Wenn er sich zum Beispiel mit den Schülern zusammensetzte, die beim Modellspiel der Vereinten Nationen mitmachten, sah er nicht nur einen Haufen von hellen Köpfen, sondern er spürte auch, wer vom Streber-Quadranten in den Sportskanonen-Quadranten wechseln wollte. Er erfasste

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