Das soziale Tier
dabei zulassen, dass Einsichten ganz plötzlich auftauchen können. Das Gehirn muss nicht einmal besonders stark dazu gedrängt werden. Es funktioniert wie eine Maschine, die auf Antizipation ausgerichtet ist, und versucht unentwegt und unwillkürlich, in Daten Muster zu erkennen. Ein Telefon überträgt nur zehn Prozent der Töne in einer Stimme, und trotzdem kann jedes Kind daraus ohne Probleme eine Vorstellung von der Person am anderen Ende der Leitung aufbauen. 24 Dies alles vollbringt das Gehirn mühelos und zuverlässig.
Ms. Taylor wollte, dass Harold Tagebuch führt, weil sie wollte, dass Harold das Wissen, das in seinem Kopf vergraben war, auf möglichst reibungslose Weise aus dem Gedächtnis abrufen können sollte. Er sollte sich seinen Tagträumereien überlassen und seine Intuitionen in Sprache fassen. Sie hielt große Stücke auf Jonah Lehrers Diktum: »Du weißt mehr, als du weißt.« 25 Sie wollte ihm eine Übung aufgeben, die es ihm erlaubte, das Problem in einer Weise zu umkreisen, die planlos und ineffizient anmutete, weil unser Bewusstsein oftmals dann am produktivsten arbeitet, wenn es unbekümmert und entspannt ist.
Harold bewahrte dieses Tagebuch sein ganzes Leben lang auf, auch wenn er immer wieder versucht war, es zu verbrennen, weil er nicht wollte, dass seine Nachkommen Einblick in seine überreizten jugendlichen Grübeleien erhalten würden. Zuerst schrieb er einfach ein Wort in die Mitte einer Seite, und dann kritzelte er die Ideen oder Gedanken, die er spontan damit assoziierte, einem Cluster entsprechend rings um dieses Wort herum. Manchmal wurde einer der peripheren Gedanken zum Mittelpunkt eines weiteren Clusters.
Er schrieb viel über die Leidenschaften griechischer Helden. Dabei verglich er den Zorn Achills mit seinem eigenen Zorn in verschiedenen Situationen; in seiner Version war er der etwas größere Held von beiden. Auch über Tapferkeit schrieb er viel und notierte sich einen Satz, den er bei Edith Hamilton über Aischylos gelesen hatte: »Das Leben war für ihn ein fürwahr gefährliches Abenteuer, aber Männer sind nicht für sichere Zufluchtsorte gemacht.« 26
Er schrieb über Stolz und übertrug auch Sätze von Aischylos selbst: »Jeglicher Hochmut bringt eine tränenreiche Ernte ein. Gott zieht die Menschen für anmaßenden Stolz zu strenger Rechenschaft.« 27 Oft war er selbst der Held seiner Geschichten – er spürte mehr und sah genauer als seine Klassenkameraden. Im besten Fall aber beflügelten ihn die griechischen Zitate und vermittelten ihm ein Gefühl der tiefen Verbundenheit mit einem längst vergangenen Zeitalter und mit Männern und Frauen, die schon lange tot waren. »Ich mache rühmliche Taten Kindern gefällig«, prahlte ein Lehrer aus Sparta, und dieser Hinweis auf Beispiele für vortreffliches Handeln inspirierte Harold. Einmal spätabends empfand er ein Gefühl der historischen Ekstase, als er einen Tagebucheintrag über die Trauerrede des Perikles schrieb. Er konnte das griechische Gefühl für die Würde und die hohe Bedeutung des Lebens nachempfinden. Vor allem in seinen späteren Tagebucheinträgen begann er, auch Urteile zu fällen und Verbindungen herzustellen. Er schrieb einen Passus über den Unterschied zwischen dem kriegerischen Achill und dem listenreichen Odysseus. Ihm wurden die Punkte bewusst, in denen er sich von den Griechen unterschied. Es gab verstörende Textpassagen, in denen ihnen jegliches Mitleid abzugehen schien. Tugenden, die auf Wettstreit und Rivalität basierten, wie etwa das Streben nach Ruhm, verkörperten sie geradezu idealtypisch, wohingegen die Tugenden des Mitleids, etwa Mitgefühl mit den Leidenden und Bedürftigen, bei ihnen eher schwach entwickelt waren. Ihnen schien das Bewusstsein für Gnade zu fehlen und für Gottes Liebe auch zu denjenigen, die sie nicht verdienten.
Nach ein paar Wochen bat Ms. Taylor Harold, ihr das Tagebuch zu zeigen. Zunächst wollte er nicht, da auch sehr viele persönliche Gedanken Eingang darin gefunden hatten. Einem männlichen Lehrer hätte er diese Angriffsfläche niemals geboten. Aber er vertraute ihr, und an einem Wochenende gab er es ihr mit nach Hause.
Die beinahe schizophrene Qualität der Aufzeichnungen verblüffte sie. Manchmal schrieb Harold eine Prosa, die dem hochtrabenden Stil des berühmten britischen Historikers Edward Gibbon in nichts nachstand. Dann wieder schrieb er wie ein Kind. Manchmal war er zynisch, manchmal poetisch und manchmal wissenschaftlich. »Der Geist
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