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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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rollte umher«, schreibt Robert Ornstein. »Er rollte umher von Zustand zu Zustand, von Aufregung zu Ruhe, von Glück zu Besorgtheit. Während er durch die verschiedenen Zustände hindurchrollt, wählt er die vielfältigen Komponenten, die in den jeweiligen Zuständen tätig werden.« 28
    Nicht ein Harold schien in seinem Tagebuch präsent zu sein, sondern Dutzende von Harolds, und Ms. Taylor war sich nicht sicher, welchen sie beim Umblättern auf die nächste Seite finden würde. Die Universität hatte sie nicht auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten vorbereitet, die sich allein im Innern eines einzigen Schülers fanden. »Wie unterrichtet man eine Klasse von Schülern«, fragte sich Ms. Taylor, »die von einer Sekunde zur nächsten ihre Persönlichkeit völlig verändern?« Trotzdem elektrisierte sie das. Dass ein Schüler ihren Vorschlag aufgriff und so immens davon profitierte, geschah nur ein Mal alle paar Jahre.
    Schritt vier
    Nach ein paar Wochen gelangte Ms. Taylor zu der Überzeugung, dass Harold nun so weit sei, die vierte und letzte Phase der Übung in Angriff zu nehmen. Die besten Lernerfolge haben diejenigen, die sich Zeit nehmen, um Informationen abzuspeichern, und Harold hatte mittlerweile Monate damit verbracht, Informationen fest in seinem Gedächtnis zu verankern. Es war an der Zeit, eine Argumentation auszuarbeiten und alles auf den Punkt zu bringen.
    Harold hatte in sein Tagebuch ein Bild mit dem Titel »Perikles auf der Highschool« gemalt. Es zeigte einen Typen in einer Toga inmitten von Jungen in Smoking und Talaren. Ms. Taylor schlug ihm vor, dies als Überschrift für seine Hausarbeit zu verwenden. Ihr fiel auf, dass Harold in seinem Tagebuch zwischen Abschnitten über seine Griechenland-Studien und Abschnitten über sein Leben auf der Highschool hin und her sprang. Kreativität besteht jedoch darin, zwei unterschiedliche Wissensnetzwerke miteinander zu verschmelzen. Sie wollte, dass er seine Gedanken über Griechenland mit den Gedanken, die er sich über sich selbst machte, kombinierte.
    Harold war zu Hause in seinem Zimmer, und seine Bücher und Tagebuchblätter lagen vor ihm verstreut auf dem Boden und dem Bett. Wie sollte er aus alldem einen zwölfseitigen Aufsatz machen? Etwas peinlich berührt las er ein paar seiner alten Tagebucheinträge. Er schnupperte in einige Bücher hinein. Nichts passte zusammen. Er simste seinen Freunden. Er spielte ein paar Partien Solitaire. Er ging auf Facebook. Wieder warf er einen Blick in einige der alten Bücher. Er unterbrach sich immer wieder selbst und begann dann aufs Neue. Eine Person, die bei der Bearbeitung einer Aufgabe unterbrochen wird, braucht 50 Prozent mehr Zeit, um sie zu erledigen, und macht 50 Prozent mehr Fehler. 29 Das Gehirn ist nicht besonders gut in Multitasking. Es muss in einen stetigen Fluss geraten, und das tut es nur, wenn die Aktivierung eines neuronalen Netzwerks konsequent zur Aktivierung des nächsten Netzwerks führt.
    Das Problem bestand darin, dass Harold die Einzelheiten seines Wissen nicht im Griff hatte. Vielmehr hatten sie ihn im Griff. Er sprang von einer Tatsache zur nächsten, aber er hatte noch kein allgemeines Ordnungsraster für sie gefunden. Ansatzweise verhielt er sich wie Solomon Schereschewski, der 1886 geborene russische Journalist, der sich an alles erinnern konnte. In einem Experiment zeigten Forscher Schereschewski auf einem Zettel eine komplexe Formel aus 30 Buchstaben und Zahlen. 30 Anschließend legten sie den Zettel in eine Schachtel und versiegelten diese für 15 Jahre. Als sie den Zettel herausnahmen, konnte sich Schereschewski genau an die Zeichenfolge erinnern.
    Schereschewski konnte sich zwar erinnern, aber er konnte nicht das Wesentliche vom Unwesentlichen trennen. Er lebte in einem Sturm chaotischer Fakten, die er nicht zu Mustern ordnen konnte. Schließlich war er sogar nicht mehr in der Lage, den Sinn von Metaphern, Vergleichen, Gedichten oder auch komplexen Sätzen zu verstehen.
    Im wesentlich kleineren Maßstab befand sich Harold in einer ganz ähnlichen Sackgasse. Er hatte ein bestimmtes Bezugssystem im Kopf, das er benutzte, wenn er an die Highschool dachte. Ein anderes Bezugssystem benutzte er, wenn er über die Griechen nachdachte. Aber beide Systeme griffen nicht ineinander. Er hatte keine Grundthese für seine Arbeit. Wie es sich für einen normalen 17-jährigen Jungen gehörte, ließ er es am Abend schließlich gut sein.
    Am nächsten Abend schaltete er sein Telefon ab und

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