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Das soziale Tier

Das soziale Tier

Titel: Das soziale Tier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Brooks
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Regeln. Wir verlangen Disziplin. Totale Disziplin. Ich sage dir das nur ein Mal. Wenn du jemals irgendjemandem erzählst, wie du hier reingeplatzt bist und in diesem Ton mit uns gesprochen hast, werfe ich dich höchstpersönlich von der Schule. Haben wir uns verstanden?«
    »Ja.«
    »Dann schreib jetzt deinen Namen und deine Adresse auf einen Zettel. Leg ihn auf den Tisch, und wir sehen uns dann im September.«
    Der korpulente Mann wuchtete sich aus seinem Stuhl und überreichte Erica seinen Füller und einen kleinen Block. Einen solchen Füller hatte sie bislang nur im Fernsehen gesehen. Sie schrieb ihren Namen, ihre Anschrift und, für alle Fälle, ihre Sozialversicherungsnummer auf, dann verließ sie das Zimmer.
    Nachdem sie gegangen war, sahen sich die Mitglieder des Verwaltungsrats erst einmal schweigend an. Als nach ein paar Sekunden sicher war, dass sich Erica außer Hörweite befand, begann der Hedgefondsmanager zu grinsen. Daraufhin brach der ganze Raum in schallendes Gelächter aus.

Kapitel 8 Selbstbeherrschung
    Die Academy war zweifellos ein Schock für Erica – angefangen damit, dass sie endlos dauerte. Der Unterricht begann morgens um acht und ging bis fünf Uhr nachmittags. Auch samstags musste Erica in die Schule und außerdem etliche Wochen im Sommer. Schüler mit einem schlechten Notendurchschnitt verbrachten hier doppelt so viel Zeit in der Schule wie andere amerikanische Schüler, und selbst Kinder mit durchschnittlichen Leistungen brachten hier 50 Prozent mehr Zeit zu. Daneben bot die Schule alles. Es gab den üblichen Englisch- und Mathe-Unterricht – genau genommen hatte sie jeden Tag zwei verschiedene Englisch-Kurse –, aber die Schule verfügte auch über eine kleine medizinische Ambulanz, bot psychologische Beratung, Ganztags-Schulverpflegung und abendliche Freizeitgestaltung an.
    Der größte Schock aber war die strenge Disziplin, die dort herrschte. Die Academy begann bei den grundlegendsten Verhaltensregeln. Sie brachte den Schülern bei, jemanden, der mit ihnen sprach, anzusehen, im Unterricht gerade zu sitzen, zu nicken, um Zustimmung zu signalisieren; sie lehrte sie, wie man jemandem die Hand gibt und wie man sich bei der ersten Begegnung vorstellt. Erica und ihre Klassenkameraden lernten die ganze erste Stunde ihres Musikunterrichts nicht anderes, als das Klassenzimmer der Reihe nach zu betreten und dann ihre Plätze ordnungsgemäß einzunehmen. In den ersten Wochen auf der Schule wurde ihnen beigebracht, wie sie sich auf dem Flur bewegen, ihre Bücher tragen und »Entschuldigung« sagen sollen, wenn sie sich gegenseitig anrempelten. Die Lehrer sagten ihnen, dass, wenn sie die kleinen Dinge beherrschten, die großen Aufgaben ihnen später umso leichter fallen würden. Schüler, die aus der Mittelschicht stammen, lernen diese Lektionen wahrscheinlich schon zu Hause, aber vielen der Schüler auf der Academy musste dies erst noch beigebracht werden.
    Ein weiterer großer Schock war das Singen. 1 Jeder Schultag begann mit einer sogenannten »schulweiten Gruppenzeit«. Alle Schüler versammelten sich in der Sporthalle und sangen gemeinsam Raps und Lieder. Sie hatten ein Respekt-Lied, ein »Wissen ist Macht«-Call-and-Response, und sie hatten ein College-Lied, bei dem sie die Namen renommierter Universitäten herausschrien und gelobten, es auf eine davon zu schaffen. Am Ende jeder dieser Versammlungen stellte ihnen der Sportlehrer folgende Fragen: Weshalb seid ihr hier? Um eine gute Ausbildung zu bekommen! Wie bekommt ihr die? Durch harte Arbeit! Was tut ihr? Hart arbeiten! Was hilft euch dabei? Selbstdisziplin! Was ist euer Ziel? Aufs College gehen! Weshalb? Um selbst über unser Schicksal zu bestimmen! Wie schafft ihr das? Wir verdienen es uns! Was verdient man sich? Alles verdient man sich!
    Jede Klasse hatte ihr eigenes Datum für die feierliche Schulabschlussfeier. Aber das entscheidende Jahr war nicht das Jahr, an dem sie die Abschlussprüfung an der Academy machen würden. Es war vier Jahre später, wenn der College-Abschluss anstand. Jedes Klassenzimmer besaß eine eigene Identität, es war nicht einfach nur Raum 215 oder Raum 111. Es war nach dem College benannt, das der Lehrer, der darin unterrichtete, besucht hatte: Michigan, Claremont, Indiana oder Wellesley. Das College war das gelobte Land. Das College war der erlesene Kreis, dem diese Schüler eines Tages angehören würden.
    Im Unterricht lernte Erica Dinge, von deren Existenz sie noch nicht einmal gehört hatte – das

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