Das soziale Tier
Leben in Thailand und die Geschichte des alten Babylonien. Alle sechs Wochen wurde sie geprüft und ihre Leistung bewertet. Die Prüfungen dienten dazu, ihre Fortschritte zu messen. Wenn sie die Erwartungen übertraf, bekam sie »Gelehrsamkeitsdollars«, mit denen sie Privilegien wie Freizeit und Ausflüge »kaufen« konnte. Am meisten Spaß machte ihr die Mitarbeit im Schulorchester, wo sie Noten lesen lernte und die Brandenburgischen Konzerte zu üben begann. Im zweiten Semester schaffte sie es auf die Liste der besten Schüler. Das bedeutete, dass sie in der Schule ein blaues Hemd tragen durfte, im Unterschied zu dem weißen Hemd, das zur Standarduniform gehörte. Noch nie in ihrem Leben war sie so stolz wie an jenem Tag, als sie bei einer Versammlung vor der gesamten Schule dieses Hemd zum ersten Mal trug.
Nach der Schule spielte sie Tennis. Erica hatte noch nie eine organisierte Sportart betrieben. Sie hatte noch nie einen Tennisschläger in der Hand gehabt. Ein paar Jahre zuvor waren zwei afroamerikanische Tennisstars an die Schule gekommen und hatten Geld für den Bau von vier Tennisplätzen hinter der Schule gespendet. Nun kam jeden Tag ein Trainer, der Tennisunterricht gab. Erica entschied, dass sie in die Mannschaft aufgenommen werden wollte.
An der Academy wurde Erica zu einer viel ernsthafteren Schülerin, aber die Art und Weise, wie sie sich ins Tennisspielen stürzte, hatte etwas Fanatisches. Sie war regelrecht besessen davon. Sie verbrachte jeden Nachmittag Stunden damit, einen Ball gegen die Wand zu schmettern. Sie hängte Tennisposter an die Wände ihres Zimmers zu Hause. Sie lernte die Geografie der Welt anhand der Geburtsorte der Tennisstars und der Austragungsorte von Turnieren. Insbesondere im ersten und zweiten Jahr auf der Academy ordnete sie ihr ganzes Leben um den kleinen gelben Ball.
Tennis diente darüber hinaus einem elementaren Zweck in ihrem Leben. Walter Lippmann schrieb einmal: »Was der Mensch jenseits aller anderen Notwendigkeiten der menschlichen Natur, jenseits der Befriedigung irgendeines anderen Bedürfnisses, jenseits von Hunger, Liebe, Lust, Ruhm – und sogar des Lebens selbst – am meisten braucht, ist die Überzeugung, im Rahmen einer wohlgeordneten Existenz geborgen zu sein.« 2 Einige Jahre lang bestimmte das Tennisspielen Ericas Identität.
Erica war stark und schnell, und obwohl sie es niemandem gegenüber zugab, war sie zwei Jahre lang davon überzeugt, Tennis könnte ihr Weg zu Glück und Ruhm sein. Sie sah sich in Wimbledon. Sie sah sich bei den French Open. Sie sah sich in ihrer Schule, wie sie zukünftigen Schülern davon erzählte, wie alles angefangen hatte.
Ihre E-Mail-Adresse lautete »tennisgirl1«. Ihre Online-Passwörter hatten etwas mit Tennis zu tun. Die Kritzeleien in ihren Notizbüchern drehten sich um Tennis. Tag für Tag nahm sie von dem Trainer Tipps entgegen, las Tennis-Webseiten und sah sich Turniere im Fernsehen an. Und Tag für Tag spielte sie besser. Aber da lag eine Wut in ihrem Spiel, die jeden um sie herum erschreckte. In den meisten Bereichen ihres Lebens war sie eine entschlossene und recht ernsthafte, aber keine zornige Person. Auf dem Tennisplatz war sie allem und jedem gegenüber von äußerster Ungeduld getrieben. Sie redete kein Wort und machte auch keine Scherzchen mit ihren Partnern. Wenn sie gewann, entspannten sich die Leute in ihrem Umfeld, wenn sie verlor, gingen sie ihr aus dem Weg. Wenn das Training schlecht lief, ruinierte ihr das den Rest des Tages, und sie kam übellaunig und gereizt nach Hause.
Anfangs nannte ihr Trainer sie »Little Mac«, da sie sich genauso aufführte wie John McEnroe, doch eines Tages wurde es beängstigend. Es war im Frühjahr ihres zweiten Jahres auf der Academy, und ihre Mannschaft spielte gegen das Team einer Schule aus einem sehr bürgerlichen Viertel am Stadtrand. Erica war in ihrem Team auf Platz zwei gesetzt und spielte am späten Nachmittag ein Einzel. Ihr Trainer beobachtete ihren ersten Aufschlag von einem Platz außerhalb der Einzäunung und hatte sofort ein ungutes Gefühl. Der erste Aufschlag ging ins Aus. Der zweite Aufschlag ging ins Netz. Als sie mit 3:0 im Rückstand war, geriet sie völlig aus dem Tritt. Bei Volleys fuchtelte sie linkisch mit den Armen, und ihre Aufschläge verschlug sie derart, dass der Ball überall, nur nicht im gegnerischen Feld landete.
Der Trainer sagte ihr, sie solle bis zehn zählen, sich entspannen und ihre Fassung wiedergewinnen, aber sie starrte ihn
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