Das soziale Tier
dies vielleicht einfach die Stürme von Ericas Pubertät seien oder ob sie nun für immer so bleiben würde. Alle Menschen haben von ihren fernen Vorfahren die Art und Weise geerbt, wie sie unwillkürlich auf Überraschungen oder Bedrohungen reagieren, die sogenannte Kampf-oder-Flucht-Reaktion. Einige Menschen scheinen schon in frühestem Alter vor Stress und Schmerz zu fliehen, andere, wie Erica, kämpfen.
Manche Neugeborenen erschrecken leichter als andere. 3 In ungewohnten Situationen steigt ihr Herzschlag schneller an als bei anderen, und ihr Blutdruck erhöht sich ebenfalls. Ihre Körper reagieren stärker. Im Jahr 1979 setzten der Psychologe Jerome Kagan und seine Mitarbeiter 500 Säuglinge einer Reihe von Reizen aus, die ihnen nicht vertraut waren. 4 Etwa 20 Prozent der Babys schrien laut und wurden als »hochreaktiv« klassifiziert. Weitere 40 Prozent zeigten nur eine schwache Reaktion und wurden als »schwachreaktiv« eingestuft. Die restlichen lagen irgendwo dazwischen.
Etwa zehn Jahre später unterzog Kagan dieselben Kinder einer Reihe von Experimenten, die Leistungsangst auslösen sollten. Etwa ein Fünftel derjenigen, die als »hochreaktiv« eingestuft worden waren, reagierten noch immer sehr stark auf Stress. Ein Drittel derjenigen, die als »schwachreaktiv« klassifiziert worden waren, hatten ihre Gelassenheit behalten. Die meisten Kinder waren jetzt im mittleren Bereich angesiedelt. Ganz wenige Kinder hatten sich von »hochreaktiv« zu »schwachreaktiv« gewandelt oder umgekehrt.
Anders gesagt: Kinder kommen mit einem bestimmten Temperament zur Welt. Dieses Temperament ist kein Pfad, der sie durchs Leben führt, es gleicht eher einer Hundeleine, wie E. O. Wilson behauptet hat. Wie alle Kinder wurde auch Erica mit bestimmten Anlagen geboren – starker Reizbarkeit oder außergewöhnlicher Gleichmütigkeit, natürlicher Heiterkeit oder Verdrießlichkeit. Ihre Anlagen würden sich im Lauf ihres Lebens weiterentwickeln, je nachdem, welche Erfahrungen sie machte und wie diese Erfahrungen das Gefüge der neuronalen Verschaltungen im Gehirn modellierten, aber die Bandbreite dieses Entwicklungspotenzials würde begrenzt sein. Ihre Reizbarkeit würde sich vielleicht abmildern, aber ihre Persönlichkeit würde sich vermutlich nicht von Grund auf verändern. Und wenn sich dieser stimmungsmäßige Grundzustand erst einmal herausgebildet hätte, würde ihre Befindlichkeit um diesen Zustand pendeln. Vielleicht gewänne sie im Lotto und würde einige Wochen lang im Glück schweben, aber nach einer gewissen Zeit würde sie in den Grundzustand zurückkehren und nicht glücklicher sein, als wenn sie nicht gewonnen hätte. Allerdings würde sie nach dem Verlust ihres Ehemanns oder einer Freundin nach einer gewissen Zeit von Kummer und Trauer ebenfalls wieder in ihren emotionalen Grundzustand zurückkehren.
Amy machte sich Sorgen. Erica war gefährlich leicht reizbar. Schon früh hatte sie bemerkt, dass Erica unter stärkeren Stimmungsschwankungen litt als die meisten anderen Kinder ihres Alters. Wenn etwas Unerwartetes geschah, schien sie ungewöhnlich heftig zu erschrecken (schreckhafte Kinder erleben im Lauf ihres Lebens mehr Angst und Furcht). Einige Wissenschaftler unterscheiden »Löwenzahn«- von »Orchideen«-Kindern. 5 Löwenzahn-Kinder sind ausgeglichener und robuster. Sie kommen fast überall gut klar. Bei Orchideen-Kindern schwankt das stärker. In der richtigen Umgebung können sie spektakulär aufblühen, in der falschen können sie in erbärmlicher Weise verkümmern. Erica war eine Orchidee, die bedrohlich zwischen Erfolg und Katastrophe pendelte.
Als Amy dasaß und sich Gedanken über Ericas Zukunft machte, erlebte sie das Gefühl tiefer Sorge, das alle Eltern von Heranwachsenden kennen. Sie selbst war eines jener Kinder gewesen, die beim ersten Anzeichen wahrgenommener Frustration übermäßig defensiv reagieren, die normale Situationen als bedrohlich fehlinterpretieren, die Wut wahrnehmen, wo keine ist, die leicht kränkbar sind und die Opfer einer imaginären inneren Welt sind, die gefährlicher ist als die Außenwelt, in der sie leben.
Bei Menschen, die so einer Art von chronischem Stress ausgesetzt sind, sterben Zellen im Hippocampus ab. Damit geht der Verlust von Erinnerungen einher, insbesondere von Erinnerungen an positive Erlebnisse. Ihr Immunsystem wird schwächer. Sie haben eine geringere Knochendichte. Sie legen schneller Fettdepots an, besonders im Taillenbereich. Langfristig gesehen
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