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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Boyne
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dieser Gedanke schnürt mir das Herz zusammen.
    »Noch nicht, nein«, sagt Wells. »Er ist noch hier im Lager. Auf Sergeant Claytons Beschluss hin eingesperrt. Nach Kriegsrecht.«
    »Aber es hat noch keinen Prozess gegeben?«
    »Wir brauchen hier draußen keinen Prozess, Sadler, und das wissen Sie. Wenn er sein Gewehr während des Kampfes eigenmächtig niederlegt, wird er von der Militärpolizei wegen Feigheit erschossen. Es wird hier innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden einen großen Angriff geben, und ich bin sicher, da kommt er zur Besinnung. Wenn er einwilligt, wieder mitzumachen, ist alles vergessen. Fürs Erste wenigstens. Vielleicht muss er sich später verantworten, aber dann kann er dem Gericht ja seine Sicht der Dinge darstellen. Er hat noch Glück, wenn Sie es sich genau überlegen. Wenn wir im Moment nicht auch noch den letzten Mann fürs Vorrücken und Eingraben dringend bräuchten, wäre er längst erschossen worden. Nein, wir lassen ihn noch da, wo er jetzt ist, und schicken ihn raus, wenn die Schlacht beginnt. Er ist voll von seinem edlen Gerede, dass er nie wieder kämpfen wird, aber das treiben wir ihm aus. Glauben Sie mir.«
    Ich nicke und schweige. Ich bin nicht davon überzeugt, dass irgendwer in der Lage ist, Will Bancroft eine Idee auszutreiben, die er sich in den Kopf gesetzt hat, will es sagen, bleibe jedoch ruhig. Einen Moment später trinkt Wells seinen Tee aus und erhebt sich.
    »Wir machen uns wohl besser wieder auf«, sagt er. »Kommen Sie mit, Sadler?«
    »Etwas später«, sage ich.
    »Also gut.« Er will weggehen, dreht sich dann aber noch einmal um und sieht mich mit schmalen Augen an. »Sind Sie sicher, dass Sie und Bancroft nicht befreundet sind?«, fragt er mich. »Ich dachte immer, Sie beide hielten zusammen wie Pech und Schwefel.«
    »Unsere Betten standen nur zufällig nebeneinander«, sage ich und kann ihm dabei nicht in die Augen blicken. »Das ist auch schon alles. Im Grunde kenne ich ihn kaum.«
    Zu meiner Überraschung sehe ich Will am folgenden Nachmittag. Er sitzt in einem verlassenen Schützenloch, nicht weit von Claytons Befehlszentrale. Er ist unrasiert und blass und starrt verloren vor sich hin, während er mit der Stiefelspitze durch den Dreck fährt. Ich betrachte ihn eine Weile, ohne mich bemerkbar zu machen, weil ich wissen will, ob man ihm seinen hehren Status ansieht. Es mögen Minuten vergangen sein, als er plötzlich den Kopf hochreißt, sich aber gleich wieder entspannt, da er sieht, dass ich es bin.
    »Du bist frei«, sage ich und trete ohne einen Gruß näher, obwohl wir uns eine ganze Weile nicht gesehen haben. »Ich dachte, sie hätten dich eingesperrt.«
    »Haben sie auch«, antwortet er, »und sie werden es sicher auch gleich wieder tun. Sie halten da drin eine Besprechung ab, und ich denke, ich soll nicht hören, was sie bereden. Corporal Wells hat gesagt, ich soll hier warten, bis mich einer zurückholt.«
    »Und sie vertrauen dir einfach so, dass du nicht wegläufst?«
    »Was denkst du denn, wohin ich laufen sollte, Tristan?«, fragt Will und lässt den Blick schweifen. Da hat er recht. Es ist nicht so, als gäbe es hier irgendeinen Ort, an den er sich flüchten könnte. »Du hast nicht zufällig eine Zigarette? Sie haben mir meine alle abgenommen.«
    Ich wühle in der Tasche meines Mantels und gebe ihm eine. Er zündet sie schnell an und schließt die Augen, bevor er das Nikotin in seine Lunge zieht.
    »Ist es schlimm?«, frage ich.
    »Was?«, fragt er und sieht mich wieder an.
    »So eingesperrt zu sein. Wells hat mir alles erzählt, und ich nehme an, sie behandeln dich fürchterlich.«
    Er zuckt mit den Schultern und sieht weg. »Das geht schon«, sagt er. »Die meiste Zeit ignorieren sie mich nur. Sie bringen mir zu essen, begleiten mich zur Latrine, und da drinnen gibt es sogar eine Pritsche, falls du das glauben kannst. Es ist weit angenehmer, als in den Gräben zu verrotten, das verspreche ich dir.«
    »Aber deswegen tust du es nicht, oder?«
    »Nein, natürlich nicht. Für wen hältst du mich eigentlich?«
    »Ist es wegen des deutschen Jungen?«
    »Zum Teil«, sagt er und blickt auf seine Stiefel. »Aber auch wegen Wolf. Was sie mit ihm gemacht haben. Der Mord, meine ich. Ich habe das Gefühl, dass wir alle immun geworden sind gegenüber der Gewalt. Ich glaube, Sergeant Clayton würde auf die Knie fallen und in Tränen ausbrechen, wenn er hörte, dass der Krieg zu Ende wäre. Er liebt ihn. Das musst du doch auch sehen, Tristan,

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