Das Spektrum der Toten
Unterbewusstseins.
Er schlug die an beiden rechten Ecken verschnürte Mappe auf, blätterte sie durch. Die Zeichnungen der älteren Periode, wie er sie selbst ironisch nannte, und die Zeichnungen der jüngsten Periode. Die ältere Periode, das war die Manie eines anderen gewaltsamen Todes: Es waren die Bilder von Erhängten. Caselo konnte sich noch genau erinnern, wann das erste Bild einer Massenhinrichtung entstanden war. Vor einem Jahr hatte er Bücher über den Zweiten Weltkrieg gelesen und auch Bildbände in wachsender Erregung angesehen.
Partisanen, reihenweise an einem Balken erhängt. Menschen, an Bäumen und Straßenlaternen erhängt. Todeskandidaten in der Hinrichtungszelle erhängt. Rache, Gewalt, Tod, Entsetzen überall. Die Macht der Henker, die Hilflosigkeit der Opfer. Und dann, irgendwann, er wusste nicht warum, hatte er sich hingesetzt und mit einem Kohlestift auf ein Blatt Zeichenpapier das Foto einer Massenhinrichtung von Priestern abgezeichnet: An einem galgenähnlichen Balken schwebten drei Erhängte, dem vierten wird ein Strick um den Hals gelegt, zwei weitere Opfer warten auf ihren Tod.
Dann folgte Bild auf Bild: die einzelnen Stufen vor, während und nach dem Erhängen in allen Varianten, mit immer reicheren Details und geschickterer Stiftführung. Diese Zeichnungen hatte er noch den Eltern und der Schwester gezeigt, die mit verlegenem Lächeln darauf reagierten. Auch den Freunden und Schulkameraden, die verständnislose Bemerkungen dazu machten.
Dann aber, vor Wochen schon, der Ausbruch der »jungen Periode«, die weit grauenhafter als die »alte Periode« war. Es waren die alptraumhaften Szenen von Enthauptungen.
Wohlgefällig betrachtete Caselo die letzten Blätter. Das riesige Schafott. Der Henker, gesichtslos, eine Kapuze mit schwarzen Augenlöchern auf dem Kopf, steht reglos auf das Beil gestützt. Ein Todeskandidat steht gefesselt vor dem Holzklotz, von dem Blut herabrinnt. Ein Richter verliest das Todesurteil.
Ein anderes Blatt: Zwei Vermummte. Der eine übergibt dem anderen einen gefesselten jungen Mann. Der andere ist mit einem Beil ausgerüstet und übernimmt das Opfer. Das Opfer trägt Caselos Gesicht.
Das nächste Bild. Caselo kniet vor dem Schafott, der Scharfrichter hat bereits das Beil erhoben.
Und immer wieder Selbstporträts. Caselo mit gefesselten Händen. Caselo mit einem Beil hinter seinem Kopf. Caselos abgeschlagener Kopf auf einem Teller. Caselos Kopf auf einen Spieß gesteckt.
Caselo nickte zufrieden. Ja, er war ein großer Künstler. Was Schiller mit Worten beschrieben hatte, brachte er ins Bild.
Einmal, als er solche Bilder einigen Mitschülern zeigte, hatten sie gefragt: »Warum zeichnest du so schreckliche Bilder?«
Er hatte geantwortet: »Weil die Welt so schrecklich ist.«
Heute wollte Caselo mit der Konzeption für eine neue Zeichnung beginnen, die weit grandioser sein sollte als alle bisherigen. Im Mittelpunkt würde wieder er stehen, als Opfer. Er stellte gegenüber dem Wandspiegel einen zweiten Spiegel auf, so dass er sich im Profil sehen konnte, legte ein neues Blatt zurecht und begann zu zeichnen.
Aber er vollendete das Bild nicht, das er bereits in seiner Gesamtheit vor sich gesehen hatte. Denn wenige Tage später erhielt er zum Geburtstag ein Geschenk, das seine Phantasie auf ein anderes Gleis lenkte. Es sollte geradewegs in den Tod führen.
Der Vater schenkte Caselo einen Fotoapparat. Die Kamera faszinierte Caselo vom ersten Augenblick an, gab seinem makabren Gestaltungsdrang einen noch stärkeren Antrieb.
Warum, so überlegte er, soll ich mühsam zeichnen, was die Kamera technisch perfekt viel besser festzuhalten vermag. Statt umständlicher Selbstporträts nun fotografische Abbilder, die zudem auch noch realistischer alle Details einer Hinrichtung offenbaren, als ich das in den Kohlezeichnungen zustande bringe.
Caselo begann zu experimentieren. Er stellte ein Stativ auf, befestigte daran die Kamera und erprobte mit Hilfe des Sekundenzeigers einer Taschenuhr die Tätigkeit des Selbstauslösers. Als er sicher war, den Ablauf zu beherrschen, begann er den Vorgang, den er darstellen wollte, in einzelne Bewegungsbilder zu zerlegen. Er besaß ja keine Filmkamera, sondern bloß einen Fotoapparat, der ihm jeweils nur Standbilder einer Bewegung lieferte. Das war ein aufwendiges Unternehmen. Aber die Begeisterung verlieh ihm Energie und Geduld.
Dann endlich begann er mit der ersten Aufnahme. Er wollte den Gang eines Mannes zum Schafott
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