Das Spektrum der Toten
Veränderungen in der Großhirnrinde erörtert hatte, wandte er sich der Frage zu, ob damit auch das Psychosyndrom bereits erklärt sei. Er verneinte es. Man müsse auch den Lebenslauf der Frau und ihre eigene Sicht auf ihre Persönlichkeitsentwicklung hinzuziehen.
Petersohn geht davon aus, dass bestimmte auffällige Verhaltensweisen der Hildegard Höhnel nicht anatomisch begründet seien.
Sie hätte bereits als Kind gewisse Auffälligkeiten gezeigt. Die Befähigung, aber auch das Bedürfnis, eine »Rolle zu spielen«, sei sicherlich nicht in der anatomischen Struktur begründet, und die am Gehirn festgestellten Auffälligkeiten seien an sich keine Fehlbildungen, sondern spätere Degenerationen.
Weiter heißt es: »In dem Kind zeigte sich schon relativ früh ein Lebensstil, der wie ein festgefügtes Verhaltensschema durch das ganze Leben zu verfolgen ist. Es ist der Grundmodus des Demonstrativen. Der Inhalt dessen, was ›demonstriert‹ wird, ist jedoch von der Thematik der unverarbeiteten Problematik abhängig. In dieser Beziehung sind Erziehung, Weltanschauung und Lebenseinstellung, Konstitution, Triebbedürfnis und Triebbefriedigung in ihrer Beziehung zur Umwelt und zu den konkreten Möglichkeiten die problembildenden Faktoren.«
Da die häuslichen Verhältnisse es nicht zuließen, Hildegards Ansprüche, Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen, sah sie sich veranlasst, sich in Auftritten zu »produzieren«, was durch das Konflikthafte in der religiösen Beziehung noch verstärkt wurde.
Die Schwangerschaft mit der Abtreibung und deren Folgen brachte Hildegard in eine ihr ausweglos erscheinende Lebenssituation und hatte entscheidende Bedeutung für ihre später übernommene »Rolle«. Ihre Flucht in den Orden sei als Bestreben zu werten, eine im Bewusstsein enthaltene Schuld auszulöschen. Doch das ihr bei der offenbar strengen Erziehung eingeschärfte Schuldgefühl ließ dies nicht zu. Ein Hineinwachsen in die Gemeinschaft war ihr unmöglich. Sie blieb mit ihrer Schuld allein, bildete sich in einem neurotischen Schuldgefühl ein, zur Verdammnis verurteilt zu sein. Das war nach Meinung Petersohns »der Ausgangspunkt der später erst sich voll entfaltenden Rolle der ›Besessenen‹ mit der damit notwendigerweise zusammenhängenden Beachtung seitens der Umgebung. Früh geprägte Verhaltensmuster bilden so die Voraussetzung des späteren Verhaltens, nicht aber das Bestehen bestimmter struktureller Gegebenheiten im Gehirn.« Bemerkenswert sei jedoch, dass sich das Erscheinungsbild zunehmend dramatisiere und ausweite, ja abartigen Charakter annähme und sich schließlich zu einer psychotischen Desorientiertheit mit einem Zerfall der Persönlichkeit steigere. Petersohn kommt zu der Schlussfolgerung: »Die im vorliegenden Fall beschriebene Symptomatik der ›Besessenheit‹ ist somit weder allein der Ausdruck eines pathologischanatomischen Syndroms bei einer bestehenden Sucht, noch ausschließlich in dem individuellen Verhaltensmodus als der Grundform der Auseinandersetzung mit der Umwelt zu begründen, sondern aus der Gesamtheit aller Gegebenheiten und nicht zuletzt aus der spezifischen Art des Bewusstseinsinhaltes der Frau mit der für sie typischen konflikthaften Auseinandersetzung mit den Problemen im religiösen Bereich, d. h. der Schuld und dem Trieb, der Versündigung, der Erlösung und der Verdammnis, zu erklären.«
Die Geschichte der Hildegard Höhnel offenbart, wie sich eine
Frau in ihrer eigenen Sicht als Opfer des Teufels verstand. Vor 300 Jahren wäre sie als Hexe verbrannt worden.
Am Schluss dieses Kapitels wiederhole ich: Der Glaube an die reale Existenz von Hexen, Dämonen und Teufeln ist Aberglaube, ist eine Form von Wahn. Wer diesem Wahn verfallen ist, wird erregt widersprechen. Die Erfahrung zeigt, wie sinnlos alle Versuche sind, einen zur unerschütterlichen Überzeugung gewordenen Glauben anzuzweifeln oder gar dagegen anzugehen. Und wenn den Hexen- und Teufelsgläubigen heutzutage eine unübersehbare Schwemme okkultistischer Bücher, Horrorfilme und unkritischer Presseberichte noch in seinem Wahn bestärkt, werden Aufklärung und Wissenschaft wenig gegen den Aberglauben ausrichten.
Die Kirche bekämpft zwar den Aberglauben als Verunglimpfung des heiligen Glaubens, aber solange zu diesem Glauben die Existenz des personifizierten Bösen, des Teufels, gehört, wird auch der kirchliche Feldzug gegen den Aberglauben nicht viel ausrichten.
Im Kampf gegen den Aberglauben gibt es keine Sieger
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