Das Spiel
Mitte sich ein schmales goldenes Band wand, so dass es wie ein Yin-Yang-Symbol aussah. Zuerst hielt Jessie es für einen Fingerring, aber dafür war es eigentlich zu klein. Kein Fingerring, sondern ein Perlmuttohrring. Der war auf den Boden gefallen, während der Besucher den Inhalt seiner Tasche durchwühlt und ihr die Stücke gezeigt hatte.
»Nein«, flüsterte sie. »Nein, unmöglich.«
Aber er lag da, funkelte im Licht der Morgensonne und war in jeder Hinsicht so wirklich wie der tote Mann, der fast darauf zu deuten schien: ein Perlmuttohrring mit einem winzigen Goldband.
Das ist einer von mir! Er ist aus meinem Schmuckkästchen gefallen und liegt seit dem Sommer hier, ich habe ihn nur eben erst bemerkt!
Aber sie besaß nur ein Paar Perlmuttohrringe, die hatten kein Goldmuster, und außerdem waren sie sowieso daheim in Portland.
Aber die Männer von Skip’s waren hier gewesen und hatten in der Woche nach dem Labor Day die Böden gewachst, und wenn ein Ohrring auf dem Fußboden gelegen hätte, hätte ihn einer aufgehoben und entweder auf die Kommode gelegt oder eingesteckt.
Und da war noch etwas.
Nein, da ist nichts. Da ist nichts, und wage ja nicht, das Gegenteil zu behaupten.
Es befand sich genau hinter dem verwaisten Ohrring.
Selbst wenn, ich werde es nicht ansehen.
Aber sie schaffte es nicht, nicht hinzusehen. Ihr Blick wanderte wie aus eigenen Stücken an dem Ohrring vorbei und richtete sich auf den Boden gleich neben der Tür zur Diele. Dort befand sich ein kleiner Tropfen getrocknetes Blut, aber nicht das Blut hatte ihre Aufmerksamkeit erregt. Das Blut stammte von Gerald. Das Blut war in Ordnung. Der Fußabdruck daneben machte ihr Kummer.
Wenn dort ein Abdruck ist, dann war er schon vorher da! Doch so sehr sich Jessie auch wünschte, sie könnte das glauben, der Abdruck war vorher nicht da gewesen. Gestern war kein einziges Stäubchen auf diesem Boden gewesen, geschweige denn ein Fußabdruck. Und weder sie noch Gerald hatten den hinterlassen, den sie gerade betrachtete. Es handelte sich um einen schuhförmigen Ring aus getrocknetem Schlamm, wahrscheinlich von dem zugewucherten Waldweg, der etwa eine Meile oder so am Ufer entlang verlief, bevor er in den Wald und nach Süden in Richtung Motton führte.
Es sah so aus, als wäre gestern Nacht doch jemand bei ihr im Schlafzimmer gewesen.
Als dieser Gedanke unausweichlich in Jessies überlasteten Verstand einsickerte, fing sie an zu schreien. Draußen, auf der hinteren Veranda, hob der Streuner einen Augenblick lang die struppige, zerkratzte Schnauze von den Pfoten. Er stellte das gesunde Ohr auf. Dann verlor er das Interesse und ließ den Kopf wieder sinken. Schließlich kam das Geräusch nicht von etwas Gefährlichem; es war nur das Frauchen. Außerdem hatte sie jetzt den Geruch des dunklen Dings an sich, das in der Nacht zu ihr gekommen war. Es war ein Geruch, den der Streuner nur zu gut kannte. Es war der Geruch des Todes.
Der einstige Prinz machte die Augen zu und schlief weiter.
25
Schließlich gelang es ihr langsam wieder, sich zu beherrschen. Sie bewerkstelligte es absurderweise mit Hilfe von Nora Callighans kleinem Mantra.
»Eins ist für Füße«, sagte sie mit einer trockenen Stimme, die in dem verlassenen Schlafzimmer knarrte und krächzte, »zehn Zehen klein, wie kleine Schweinchen, sind sie nicht fein? Zwei ist für Beine, schön lang und schön eben, drei mein Geschlecht, mit dem Gott mir’s gegeben.«
Sie machte unaufhörlich weiter, rezitierte die Verse, an die sie sich erinnern konnte, ließ alle weg, die sie nicht mehr wusste, und hielt die Augen geschlossen. Sie sagte den ganzen Spruch ein halbes Dutzend Mal auf. Sie merkte, dass ihr Herzschlag langsamer wurde und die schlimmste Angst nachließ, aber nicht, dass sie das eine von Noras Verschen verändert hatte.
Nach der sechsten Wiederholung schlug sie die Augen auf und sah sich wie eine Frau im Zimmer um, die gerade aus einem kurzen, erholsamen Nickerchen erwacht war. Die Ecke neben der Kommode allerdings mied sie. Sie wollte den Ohrring nicht noch einmal sehen, und den Fußabdruck wollte sie auf gar keinen Fall betrachten.
Jessie? Die Stimme war sehr leise, sehr zaghaft. Jessie dachte, dass es die Stimme von Goodwife war, ohne den schrillen Unterton und das fieberhafte Abstreiten. Jessie, kann ich etwas sagen?
»Nein«, antwortete sie sofort mit ihrer schroffen Staub-in-den-Fugen-Stimme. »Zieh Leine. Ich will mit euch Weibern nichts mehr zu tun
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