Das Spiel
ernannte Stimme der Wahrheit nicht hören wollte, musste aber feststellen, dass sie sie ebenso wenig abschalten konnte wie alle anderen Stimmen.
Das sind echte Handschellen, die du da anhast, nicht die niedlichen kleinen Sex-Shop-Artikel mit Polsterung innen und einem verborgenen Sicherheitsknopf, den du drücken kannst, wenn sich jemand vergisst und ein bisschen zu weit geht. Du bist richtig gefesselt, und du bist kein Fakir aus dem Geheimnisvollen Orient, der seinen Körper wie eine Brezel verknoten kann, und kein Entfesselungskünstler wie Harry Houdini oder David Copperfield. Ich sage es nur, wie ich es sehe, okay? Und soweit ich es sehe, bist du im Eimer.
Plötzlich fiel ihr ein, was geschehen war, nachdem ihr Vater am Tag der Sonnenfinsternis das Schlafzimmer verlassen hatte – wie sie sich auf das Bett geworfen und geweint hatte, bis es ihr so vorkam, als müsste ihr Herz brechen oder schmelzen oder einfach zu schlagen aufhören. Und jetzt, während ihr Mund zu zittern anfing, sah sie fast genauso aus wie damals: müde, verwirrt, ängstlich und hilflos. Letzteres am allermeisten.
Jessie fing an zu weinen, aber nach den ersten Tränen konnten ihre Augen keine mehr erzeugen; offenbar waren strengere Rationierungsmaßnahmen in Kraft getreten. Sie weinte trotzdem ohne Tränen, und das Schluchzen war in ihrem Hals so trocken wie Schmirgelpapier.
24
In New York City hatten sich die Fans der Fernsehsendung Today wieder für einen Tag verabschiedet. Im NBC-Sender, der den Süden und Westen von Maine versorgte, folgte zuerst eine lokale Talkshow (eine große, matronenhafte Frau in Ginghamschürze führte vor, wie einfach es war, Bohnen im Schmortopf zu garen), dann eine Spiel-Show, wo Berühmtheiten Scherzfragen knackten und Teilnehmer laute, orgiastische Schreie ausstießen, wenn sie Autos oder Boote oder hellrote Staubsauger Marke »Dirt Devil« gewannen. Im Haus der Burlingames am malerischen Kashwakamak Lake döste die frischgebackene Witwe unbehaglich in ihren Fesseln, dann träumte sie wieder. Es war ein Alptraum, den der unruhige, leichte Schlaf der Träumenden irgendwie noch lebhafter und überzeugender machte.
Darin lag Jessie in der Dunkelheit, und ein Mann – oder ein mannähnliches Wesen – stand ihr wieder in der Ecke des Zimmers gegenüber. Der Mann war nicht ihr Vater; der Mann war nicht ihr Ehemann; der Mann war ein Fremder, der Fremde, der, der unsere kränksten, paranoidesten Hirngespinste und tiefsten Ängste verkörperte. Es war das Gesicht eines Wesens, das Nora Callighan mit all ihren guten Ratschlägen und ihrer lieben, praktischen Natur, nie mit einbezogen hatte. Dieses schwarze Wesen konnte durch nichts mit der Nachsilbe »-ologie« gebannt werden. Es war ein komischer Joker.
Aber du kennst mich, sagte der Fremde mit dem langen, blassen Gesicht. Er bückte sich und ergriff den Henkel seiner Tasche. Jessie stellte ohne Überraschung fest, dass der Griff aus einem Kieferknochen bestand und die Tasche selbst aus Menschenhaut. Der Fremde hob sie hoch, klappte die Laschen um und machte sie auf. Wieder sah sie Knochen und Juwelen; wieder griff seine Hand in das Durcheinander und rührte es mit langsam kreisenden Bewegungen um, wobei er das schauerliche Klicken und Klappern und Klirren und Scheppern erzeugte.
Nein, sagte sie. Ich weiß nicht, wer du bist. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es nicht!
Ich bin selbstverständlich der Tod, und ich komme heute Nacht wieder. Nur glaube ich, werde ich heute Nacht mehr machen, als nur in der Ecke stehen; ich glaube, heute Nacht werde ich dich anspringen, ganz … genau … so!
Er sprang vorwärts, ließ die Tasche fallen (Knochen und Armreife und Ketten und Ringe kullerten zu der Stelle hin, wo Gerald auf dem Boden lag und mit dem verstümmelten Arm zur Flurtür deutete) und streckte die Arme aus. Sie sah, dass die Finger in schmutzigen Nägeln endeten, die von der Länge her eher Klauen ähnelten, und dann schüttelte sie sich keuchend und ruckartig wach, dass die Ketten der Handschellen schwangen und klirrten, während sie abwehrende Bewegungen mit den Händen machte. Sie flüsterte nuschelnd und monoton immer wieder das Wort »Nein«.
Es war ein Traum! Hör auf, Jessie, es war nur ein Traum!
Sie ließ langsam die Hände sinken und wieder schlaff in den Handschellen baumeln. Selbstverständlich – nur eine Variation des Traums von gestern Nacht. Aber realistisch war er schon gewesen – Herrgott, ja. Viel
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