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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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haben.«
    Bitte, Jessie. Bitte hör mir zu.
    Sie machte die Augen zu und stellte fest, dass sie den Teil ihrer Persönlichkeit, den sie Goody Burlingame getauft hatte, tatsächlich sehen konnte. Goody stand immer noch am Pranger, aber jetzt hatte sie den Kopf gehoben – eine Tat, die nicht leicht gewesen sein konnte, da die grausamen Holzklammern ihr in den Nacken drückten. Das Haar fiel für einen Moment aus dem Gesicht, und Jessie stellte überrascht fest, dass sie nicht Goodwife sah, sondern ein junges Mädchen.
    Ja, aber sie ist trotzdem ich, dachte Jessie und lachte fast. Wenn das nicht ein Fall von Comic-Psychologie war, dann wusste sie nicht, was einer sein konnte. Sie hatte gerade an Nora gedacht, und eines von Noras Lieblingssteckenpferden war gewesen, wie die Menschen sich um »das Kind in ihnen« kümmern sollten. Nora behauptete, die häufigste Ursache für Unglücklichsein war, wenn man das Kind in sich nicht hegte und pflegte.
    Jessie nickte feierlich angesichts von dem allen und behielt die Meinung für sich, dass es sich weitgehend um sentimentalen Quatsch von wegen Zeitalter des Wassermanns/New Age handelte. Sie hatte Nora gerngehabt, und obwohl sie der Überzeugung war, dass sich Nora an zu viele Relikte der späten sechziger und frühen siebziger Jahre klammerte, sah sie Noras »Kind im Inneren« jetzt deutlich vor sich, und das schien vollkommen in Ordnung zu sein.
    Jessie überlegte sich, dass die Vorstellung sogar einen symbolischen Wert haben konnte, und unter den gegebenen Umständen war der Pranger ein verdammt passendes Bild, oder nicht? Das Mädchen darin war die wartende Goodwife, die wartende Ruth, die wartende Jessie. Sie war das kleine Mädchen, das ihr Vater Punkin genannt hatte.
    »Dann sprich«, sagte Jessie. Sie hatte die Augen immer noch geschlossen, und eine Mischung aus Stress, Hunger und Durst trug dazu bei, dass die Vision des Mädchens am Pranger ausnehmend wirklichkeitsgetreu wirkte. Jetzt konnte sie die Worte WEGEN SEXUELLER VERFÜHRUNG über dem Kopf des Mädchens auf einem festgenagelten Stück Pergament lesen. Die Worte waren selbstverständlich mit bonbonrosa Peppermint-Yum-Yum-Lippenstift geschrieben.
    Aber damit war ihre Fantasie noch lange nicht am Ende. Neben Punkin stand ein zweiter Pranger mit einem zweiten Mädchen darin. Das war etwa siebzehn und dick. Ihr Gesicht war von Pickeln übersät. Hinter den Gefangenen wurde ein Gemeindepark sichtbar, auf dem Jessie im nächsten Augenblick einige Kühe grasen sehen konnte. Jemand läutete mit monotoner Regelmäßigkeit eine Glocke – hinter dem nächsten Hügel, wie es sich anhörte -, als wollte der Glöckner den ganzen Tag so weitermachen … oder zumindest bis die Kühe nach Hause gekommen waren.
    Du verlierst den Verstand, Jess, dachte sie resigniert, und sie dachte, dass das stimmen musste, aber unter den gegebenen Umständen schien es ihre geringste Sorge zu sein. Sie vermutete, dass sie es über kurz oder lang sogar zu den glücklichen Fügungen rechnen würde. Sie verdrängte den Gedanken und konzentrierte sich wieder auf das Mädchen am Pranger. Dabei stellte sie fest, dass ihr Verdruss Zärtlichkeit und Wut gewichen war. Diese Version von Jessie Mahout war älter als die, die während der Sonnenfinsternis missbraucht worden war, aber nicht viel älter – zwölf, höchstens vierzehn. In diesem Alter sollte sie überhaupt nicht wegen eines Verbrechens im Stadtpark am Pranger stehen, aber sexuelle Verführung? Sexuelle Verführung um Himmels willen? Was war das für ein schlechter Scherz? Wie konnten die Leute nur so grausam sein? So wissentlich blind?
    Was willst du mir sagen, Punkin?
    Nur dass es echt ist, sagte das Mädchen am Pranger. Ihr Gesicht war blass vor Schmerzen, aber die Augen besorgt und klar. Es ist echt, das weißt du, und es wird heute Nacht zurückkommen. Ich glaube, dieses Mal wird es mehr tun, als nur beobachten. Du musst aus den Handschellen raus, bevor die Sonne untergeht, Jessie. Du musst aus diesem Haus sein, bevor es zurückkommt.
    Wieder wollte sie weinen, hatte aber keine Tränen in sich; sie spürte nur das trockene Schmirgelpapierbrennen.
    Ich kann nicht!, schrie sie. Ich habe alles versucht! Ich kann nicht alleine raus!
    Du hast eins vergessen, sagte das Mädchen am Pranger zu ihr. Ich weiß nicht, ob es wichtig ist, aber es könnte sein.
    Was?
    Das Mädchen drehte die Hände in den Löchern, die sie festhielten, und offenbarte die sauberen rosa Handflächen. Er hat gesagt, es

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