Das Spiel
schlimmer, wenn man es recht überlegte, als der Traum von der Krocketparty oder der, in dem sie das heimliche und unglückliche Erlebnis mit ihrem Vater während der Sonnenfinsternis durchlebt hatte. Es war mehr als seltsam, dass sie heute Morgen so viel über diese beiden Träume und so wenig über diesen weitaus furchteinflößenderen nachgedacht hatte. Tatsache war, dass sie überhaupt nicht an das Wesen mit den unheimlich langen Armen und dem grässlichen Souvenirkoffer gedacht hatte, bis sie gerade eben eingedöst war und wieder von ihm geträumt hatte.
Eine Zeile aus einem Song fiel ihr ein, etwa aus dem späten Psychedelischen Zeitalter: »Some people call me the space cowboy … yeah … some call me the gangster of love …«
Jessie erschauerte. Space Cowboy. Das war irgendwie genau zutreffend. Ein Außenseiter, der mit nichts etwas zu tun hatte, ein Joker, ein …
»Ein Fremder«, flüsterte Jessie, und plötzlich fiel ihr ein, wie sich seine Wangen beim Grinsen gerunzelt hatten. Und als ihr das eingefallen war, fügten sich ringsum auch andere Teile in das Puzzle ein. Der funkelnde Goldzahn weit hinten im grinsenden Mund. Die wulstigen Lippen des Schmollmunds. Die schmale Stirn und die scharfkantige Hakennase. Und dann natürlich die Tasche, wie man sie bei einem Handlungsreisenden erwartete, dem sie ans Bein schlug, während er sich sputete, um den Zug noch zu bekommen …
Hör auf, Jessie – mach dir nicht selber Angst. Hast du nicht genug Probleme, auch ohne dir über den Schwarzen Mann Gedanken zu machen?
Das war sicherlich zutreffend, aber sie stellte fest, nachdem sie nun einmal angefangen hatte, über den Traum nachzudenken, konnte sie nicht mehr aufhören, und was noch schlimmer war, je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger kam er ihr wie ein Traum vor.
Und wenn ich nun doch wach war?, dachte sie plötzlich, und nachdem dieser Gedanke auf der Bildfläche erschienen war, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass ein Teil von ihr die ganze Zeit davon überzeugt gewesen war. Er hatte nur darauf gewartet, dass sich der Rest von ihr ebenfalls zu dieser Erkenntnis durchringen konnte.
Nein, o nein, es war nur ein Traum, mehr nicht …
Und wenn nicht? Wenn nicht?
Tod, stimmte der Fremde mit dem weißen Gesicht zu. Du hast den Tod gesehen. Ich komme heut Nacht zurück, Jessie. Und morgen Nacht werde ich deine Ringe bei den anderen hübschen Sachen in meiner Tasche haben … meinen Souvenirs.
Jessie stellte fest, dass sie am ganzen Körper schlotterte, als hätte sie sich eine Erkältung geholt. Ihre aufgerissenen Augen sahen hilflos in die verlassene Ecke, wo der
(Space Cowboy Gangster of Love)
gestanden hatte, die Ecke, die jetzt hell im Licht der Morgensonne lag, aber heute Nacht wieder ein dunkles Dickicht von Schatten sein würde. Gänsehaut ließ ihr die Härchen an den Armen zu Berge stehen. Die unentrinnbare Wahrheit stellte sich wieder ein: Sie würde wahrscheinlich hier sterben.
Mit der Zeit wird dich jemand finden, Jessie, aber es könnte lange dauern. Als Erstes wird man vermuten, dass ihr beide zu einem wildromantischen Schäferstündchen abgereist seid. Warum nicht? Habt ihr, du und Gerald, nach außen hin nicht immer so getan, als wärt ihr im glücklichsten zweiten Ehefrühling? Schließlich habt nur ihr beide gewusst, dass ihn Gerald zuletzt nur noch dann mit Sicherheit hochkriegen konnte, wenn du mit Handschellen ans Bett gefesselt warst. Dabei fragt man sich unwillkürlich, ob nicht auch mit ihm jemand am Tag der Sonnenfinsternis ein paar nette Spielchen gespielt hat, oder nicht?
»Haltet den Mund«, murmelte sie. »Haltet alle miteinander den Mund.«
Aber früher oder später wird jemand nervös werden und nach euch suchen. Wahrscheinlich Geralds Kollegen, die eigentlich an den Schalthebeln sitzen, glaubst du nicht auch? Ich meine, es gibt ein paar Frauen in Portland, die du Freundinnen nennst, aber die hast du eigentlich nie richtig an deinem Leben Anteil nehmen lassen, oder? Mehr als Bekannte sind sie eigentlich nicht, Damen, die man zum Tee einlädt und mit denen man Kataloge austauscht. Keine wird sich nennenswert Sorgen machen, wenn du eine Woche oder zehn Tage abwesend bist. Aber Gerald hat Termine, und wenn er bis Montagmittag nicht aufgetaucht ist, werden einige seiner Geschäftskollegen wahrscheinlich zum Telefon greifen und Fragen stellen, ja, so wird es wahrscheinlich anfangen, aber wahrscheinlich wird der Hausmeister die Leichen finden, meinst du nicht
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