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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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es langsam durch das Zimmer schob, fast perfekt. Sie musste nur einmal den Kurs korrigieren, indem sie ihr Ende des Betts ein bisschen weiter nach links rückte, damit das andere sicher nicht an der Kommode hängen blieb. Dabei – als sie mit gesenktem Kopf und ausgestreckter Kehrseite und fest um den Bettpfosten geschlungenen Armen drückte – erlebte sie ihren ersten Schwindelanfall … aber erst als sie das Gewicht an den Bettpfosten lehnte und wie eine Frau aussah, die so betrunken war, dass sie nur noch stehen konnte, indem sie vorgab, sie würde Wange an Wange mit ihrem Freund tanzen, überlegte sie sich, dass Dunkelheitsgefühl wohl das bessere Wort dafür wäre. Das vorherrschende Gefühl war das eines Verlusts – nicht nur von Denkvermögen und Willenskraft, sondern auch jeglicher Sinneswahrnehmung. Einen verwirrten Augenblick lang dachte sie, die Zeit hätte einen Purzelbaum geschlagen und sie an einen Ort versetzt, der weder Dark Score noch Kashwakamak war, sondern etwas völlig anderes, ein Ort, der am Meer lag, nicht an einem See im Landesinneren. Es roch nicht mehr nach Austern und Pennys, sondern nach Meersalz. Es war wieder der Tag der Sonnenfinsternis, nur das war dasselbe geblieben. Sie war in die Brombeerhecken gelaufen, um einem anderen Mann zu entkommen, einem anderen Daddy, der viel mehr wollte als nur seinen Saft auf ihre Unterhose abspritzen. Und nun lag er auf dem Grund des Brunnens.
    Ein Déjà-vu schlug über ihr zusammen wie ein seltsames Gewässer.
    O Gott, was ist das?, dachte sie, bekam aber keine Antwort, sondern sah nur wieder das verwirrende Bild, an das sie nicht mehr gedacht hatte, seit sie am Tag der Sonnenfinsternis in das mit Handtüchern abgeteilte Zimmer gegangen war, um sich umzuziehen: eine hagere Frau im Hauskleid, deren meliertes Haar zu einem Knoten hochgesteckt war und die ein Bündel weißen Stoff neben sich hatte.
    Puh, dachte Jessie, die mit der verstümmelten rechten Hand den Bettpfosten umklammerte und sich verzweifelt bemühte, keine weichen Knie zu bekommen. Halt durch, Jessie – halt einfach durch. Vergiss die Frau, vergiss den Geruch von Meersalz und Brombeeren, vergiss die Dunkelheit. Halt durch, dann geht die Dunkelheit vorbei.
    Sie hielt durch, und die Dunkelheit ging vorbei. Das Bild der hageren Frau, die neben ihrem Slip kniete und das unregelmäßige Loch in den alten Brettern betrachtete, verschwand als Erstes, dann löste sich die Dunkelheit auf. Es wurde wieder heller im Schlafzimmer, in das allmählich der herbstliche Fünf-Uhr-Sonnenschein zurückkehrte. Sie sah Staubteilchen im Licht tanzen, das schräg durch die Fenster zum See einfiel, sah ihre eigenen Schattenbeine, die sich über den Boden streckten. Sie waren an den Knien gebrochen, damit der restliche Schatten an den Wänden hochragen konnte. Die Dunkelheit verzog sich, hinterließ aber ein hohes, liebliches Summen in Jessies Ohren. Als sie auf ihre Füße sah, stellte sie fest, dass auch diese mit Blut überzogen waren. Sie watete darin und hinterließ Spuren.
    Deine Zeit wird knapp, Jessie.
    Sie wusste es.
    Jessie drückte die Brust wieder gegen das Kopfteil. Dieses Mal war es schwerer, das Bett in Bewegung zu setzen, aber schließlich gelang es ihr. Zwei Minuten später stand sie neben der Kommode, die sie so lange und hoffnungslos von der anderen Seite des Zimmers aus betrachtet hatte. Ein unmerkliches, trockenes Lächeln brachte ihre Mundwinkel zum Zucken. Ich bin wie eine Frau, die ihr Leben lang vom schwarzen Sand von Kona geträumt hat und nicht glauben kann, dass sie endlich darauf steht, dachte sie. Es scheint auch wieder nur ein Traum zu sein, bloß etwas realistischer als die meisten, weil in deinem deine Nase juckt.
    Ihre Nase juckte nicht, aber sie sah auf die verschlungene Schlange von Geralds Krawatte hinunter, die immer noch geknotet war. Letzteres war ein Detail, wie es selbst die realistischsten Träume kaum je präsentierten. Außerdem lagen neben der roten Krawatte zwei kleine, eindeutig identische Schlüssel mit runden Griffen. Die Handschellenschlüssel.
    Jessie hob die rechte Hand und betrachtete sie kritisch. Der dritte und der vierte Finger hingen immer noch schlaff herab. Sie überlegte sich flüchtig, wie viel Schaden sie der Hand zugefügt haben mochte, dann vergaß sie den Gedanken wieder. Das war vielleicht später wichtig – so wie vieles andere, das sie im Verlauf dieses grimmigen Homeruns über das Spielfeld verdrängt hatte -, aber im Augenblick war ihr

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