Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
Vom Netzwerk:
nicht daran zu denken, was aus ihr werden würde, wenn es schiefging, hob den Schlüssel hoch und hielt ihn über die Handschelle. Sie durchlebte schlimme Sekunden, als es ihr nicht gelang, den zitternden Schlüssel in das Schloss einzuführen, und noch schlimmere, als sie das Schloss plötzlich doppelt sah … dann vierfach. Jessie kniff die Augen zu, holte noch einmal tief Luft und riss sie wieder auf. Jetzt sah sie wieder nur ein Schloss und rammte den Schlüssel hinein, bevor ihre Augen ihr noch mehr Streiche spielen konnten.
    »Okay«, sagte sie. »Mal sehen.«
    Sie drückte im Uhrzeigersinn. Nichts geschah. Panik wollte in ihrem Hals hochschnellen, aber dann fiel ihr plötzlich der alte, rostige Pritschenwagen ein, den Bill Dunn fuhr, wenn er die Runde machte und nach den Ferienhäusern sah, und der Scherzaufkleber auf der hinteren Stoßstange: LINKSRUM GLATT VORBEI, RECHTSRUM EINWANDFREI stand da. Über diesen Worten war eine riesengroße Schraube aufgemalt.
    »Linksrum glatt vorbei«, murmelte Jessie und versuchte, den Schlüssel im Gegenuhrzeigersinn zu drehen. Einen Augenblick lang begriff sie gar nicht, dass der Bügel aufgeschnappt war; sie dachte, das laute Klicken hätte der Schlüssel erzeugt, weil er im Schloss abgebrochen war, und kreischte so sehr, dass Blut von der Schnittwunde in ihrem Mund auf die Kommode spritzte. Ein paar Tropfen besudelten Geralds Krawatte, rot auf rot. Dann sah sie, dass der gekerbte Verschlussbügel aufgeschnappt war, und stellte fest, dass sie es geschafft hatte – tatsächlich geschafft.
    Jessie Burlingame zog die linke Hand, die ums Handgelenk herum etwas geschwollen, sonst aber unversehrt war, aus der offenen Handschelle, die wie ihr Kompagnon gegen das Kopfteil fiel. Dann hob sie mit einem Ausdruck tief empfundener Verwunderung langsam beide Hände vors Gesicht. Sie sah von der linken zur rechten und wieder zur linken. Sie nahm nicht zur Kenntnis, dass die rechte blutverschmiert war; sie interessierte sich nicht für das Blut, jedenfalls noch nicht. Im Augenblick wollte sie sich nur vergewissern, dass sie wirklich und wahrhaftig frei war.
    Sie sah fast eine halbe Minute zwischen ihren Händen hin und her und bewegte dabei die Augen wie eine Zuschauerin bei einem Tischtennisspiel. Dann holte sie tief Luft, legte den Kopf zurück und stieß einen neuerlichen schrillen Schrei aus. Sie spürte eine erneute Woge der Dunkelheit, groß und glatt und tückisch, durch sich hindurchdonnern, achtete aber nicht darauf und schrie weiter. Ihr war, als hätte sie keine andere Wahl; entweder schreien oder sterben. Der spröde, kristallene Unterton des Wahnsinns in diesem Schrei war nicht zu überhören, aber es war dennoch ein Schrei völligen Triumphs und Sieges. Zweihundert Meter entfernt, im Wäldchen am Ende der Einfahrt, hob der einstige Prinz Kopf und Schnauze und sah unbehaglich zum Haus.
    Sie schien den Blick nicht von den Händen nehmen zu können, mit Schreien einfach nicht aufhören zu können. Sie hatte noch nie etwas auch nur im Entferntesten Ähnliches empfunden, und irgendein Teil von ihr dachte: Wenn Sex auch nur halb so gut wäre, würden die Leute es an jeder Straßenecke treiben – sie könnten einfach nicht anders.
    Dann ging ihr die Puste aus, und sie schwankte rückwärts. Sie griff nach dem Kopfteil, aber einen Augenblick zu spät – sie verlor das Gleichgewicht und landete auf dem Schlafzimmerboden. Während sie fiel, stellte Jessie fest, ein Teil von ihr rechnete damit, dass die Handschellen ihren Sturz bremsen würden. Reichlich komisch, wenn man darüber nachdachte.
    Beim Aufprall schlug sie sich die offene Wunde der Innenseite des Handgelenks an. Schmerzen flammten in ihrem rechten Arm wie elektrische Christbaumkerzen auf, und als sie dieses Mal schrie, war es ausschließlich vor Schmerzen. Sie unterdrückte den Schrei jedoch rasch, als sie merkte, dass sie wieder in die Bewusstlosigkeit abdriftete. Sie schlug die Augen auf und sah in das zerfetzte Gesicht ihres Mannes. Gerald betrachtete sie mit einem Ausdruck endloser, erstarrter Überraschung – Das hätte mir nicht zustoßen dürfen, ich bin Anwalt, und mein Name steht auf dem Firmenschild. Dann verschwand die Fliege, die sich auf seiner Oberlippe die Hinterfüße geputzt hatte, in einem seiner Nasenlöcher, und Jessie drehte den Kopf so unvermittelt herum, dass sie ihn auf den Bodendielen anschlug und Sterne sah. Als sie dieses Mal die Augen öffnete, sah sie zum Kopfteil mit seinen fröhlichen

Weitere Kostenlose Bücher