Das Spiel
Blutspuren und Rinnsalen empor. Hatte sie noch vor wenigen Sekunden so weit oben gestanden? Sie war sich ziemlich sicher, dass es so gewesen sein musste, aber es war schwer zu glauben – von hier unten sah das Scheißbett etwa so hoch wie das Chrysler Building aus.
Beweg dich, Jess! Das war Punkin, die wieder mit ihrer drängenden, nervtötenden Stimme sprach. Für jemand mit so einem süßen lieben Gesicht konnte Punkin wirklich ein Flittchen sein, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.
»Kein Flittchen«, sagte sie und ließ die Augen zufallen. Ein ansatzweises, verträumtes Lächeln umspielte ihre Mundwinkel. »Eine Nervensäge.«
Beweg dich, verdammt!
Kann nicht. Muss erst etwas ausruhen.
Wenn du dich nicht sofort in Bewegung setzt, kannst du für immer ausruhen! Also heb deinen fetten Arsch!
Das rüttelte sie auf. »Der ist überhaupt nicht fett, Großmaul«, murmelte sie gallig und versuchte, auf die Beine zu kommen. Nur zwei Anstrengungen (die zweite wurde von einem weiteren lähmenden Krampf im Zwerchfell vereitelt) waren erforderlich, ihr zu zeigen, dass das Aufstehen zumindest vorläufig ein ziemlich schlechter Einfall gewesen war. Und wenn sie aufstand, fingen die Probleme erst richtig an, denn sie musste ins Bad, aber die Tür dorthin wurde vom Fußende des Bettes wie von einer Straßensperre verbarrikadiert.
Jessie glitt mit einer schwimmenden, behänden Bewegung, die fast anmutig wirkte, unter das Bett und wehte dabei ein paar verstreute Staubflusen aus dem Weg. Sie rollten wie graue Wüstenhexen davon. Aus unerfindlichen Gründen musste sie bei den Staubflusen wieder an die Frau aus ihrer Vision denken – die Frau, die im Brombeerstrauch kniete und den Slip als weißes Bündel neben sich liegen hatte. Sie schob sich ins Bad, und dort peinigte ein neuer Geruch ihre Nasenflügel: der dunkle, moosige Geruch von Wasser. Wasser tropfte aus dem Hahn beim Waschbecken; Wasser tropfte vom Duschkopf; Wasser tropfte aus der Batterie über der Badewanne. Sie konnte sogar den eigentümlichen Demnächst-Mehltau-Geruch eines nassen Handtuchs im Korb hinter der Tür riechen. Wasser, Wasser, überall Wasser, und jeder Tropfen war trinkbar. Ihre Speiseröhre schrumpfte trocken im Hals zusammen, schien aufzuschreien, und Jessie stellte fest, dass sie tatsächlich sogar Wasser berührte - eine kleine Pfütze vom lecken Rohr unter dem Waschbecken, das der Klempner nie zu reparieren schien, wie oft sie es ihm auch sagte. Jessie zog sich keuchend zu dieser Pfütze, ließ den Kopf sinken und leckte das Linoleum ab. Das Wasser schmeckte unglaublich, das seidige Gefühl auf Lippen und Zunge war besser als alle Träume von Sinnlichkeit.
Das einzige Problem war, es war nicht genug. Der bezaubernd feuchte, bezaubernd grüne Geruch war rings um sie herum, aber die Pfütze unter dem Waschbecken war fort und Jessies Durst nicht gelöscht, sondern nur angespornt. Der Geruch, der Geruch von schattigen Frühlingstagen und alten, verborgenen Brunnenschächten, vollbrachte, was nicht einmal Punkins Stimme vollbracht hatte: Jessie kam wieder auf die Beine.
Sie zog sich am Rand des Beckens hoch. Im Spiegel sah sie nur ganz kurz eine achthundertjährige Frau herausblicken, dann drehte sie die Armatur mit der Aufschrift K. Frisches Wasser – alles Wasser der Welt – kam herausgesprudelt. Sie versuchte, wieder diesen Triumphschrei auszustoßen, aber dieses Mal brachte sie lediglich ein raues, nuschelndes Flüstern zustande. Sie beugte sich über das Becken, machte den Mund auf und zu wie ein Fisch und stürzte sich in das moosige Brunnenparfüm. Es war auch der schale Mineraliengeruch, der sie im Lauf der Jahre, seit ihr Vater sie am Tag der Sonnenfinsternis missbrauchte, immer wieder heimgesucht hatte, aber jetzt war er nicht mehr schlimm; jetzt war es nicht der Geruch von Angst und Scham, sondern der Geruch des Lebens. Jessie inhalierte ihn, dann hustete sie ihn fröhlich wieder aus, als sie den Mund unter den Strahl aus dem Wasserhahn hielt. Sie trank, bis ein heftiger, aber schmerzloser Krampf sie veranlasste, alles wieder zu erbrechen. Es kam immer noch kühl von dem kurzen Besuch in ihrem Magen zurück und bespritzte den Spiegel mit rosa Tröpfchen. Dann keuchte sie mehrmals und versuchte es noch einmal.
Beim zweiten Mal blieb das Wasser drinnen.
33
Das Wasser stellte sie auf wunderbare Weise wieder her, und als sie schließlich den Hahn zudrehte und sich im Spiegel betrachtete, fühlte sie sich
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