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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Autoschlüssel aus der Tasche ihres Hosenrocks holen konnte, und der windumtosten Dunkelheit dabei gesagt, dass sie es wie eine Amöbe machen und sich teilen würde. Soweit sie wusste, war das bis heute ihr letztes Lachen gewesen.
    »Nur das, und nichts mehr«, murmelte Jessie. Sie holte eine Packung Zigaretten aus der Blusentasche und zündete sich eine an. Herrgott, wie dieser Ausdruck ihr alles ins Gedächtnis zurückrief – das Einzige andere, dem das so schnell und gründlich gelang, hatte sie festgestellt, war der grässliche Song von Marvin Gaye. Sie hatte ihn einmal im Radio gehört, als sie sich auf der Rückfahrt von einem der scheinbar endlosen Arzttermine befunden hatte, aus denen ihr Leben diesen Winter bestand, und da hatte Marvin mit seiner leisen, vielsagenden Stimme »Everybody knows … especially you girls …« gestöhnt. Sie hatte das Radio sofort abgestellt, war aber dennoch so erschüttert gewesen, dass sie nicht weiterfahren konnte. Sie hatte angehalten und gewartet, bis das schlimmste Zittern vorbei war. Es hatte schließlich aufgehört, aber in den Nächten, wenn sie nicht aufgewacht war und diesen Ausdruck aus »Der Rabe« immer und immer wieder in ihr Kissen murmelte, hörte sie sich »Witness, witness« singen. Soweit es Jessie betraf, waren es sechs vom einen und eine halbe Million vom anderen.
    Sie zog lange an der Zigarette, stieß drei perfekte Ringe aus und beobachtete, wie sie langsam über dem summenden Mac aufstiegen.
    Wenn die Leute dumm genug oder taktlos genug waren, sie nach ihrer schweren Prüfung zu fragen (und sie hatte feststellen müssen, dass es viel mehr dumme oder taktlose Menschen gab, als sie vermutet hätte), sagte sie ihnen, sie könne sich kaum daran erinnern, was vorgefallen war. Nach den ersten zwei oder drei polizeilichen Verhören erzählte sie den Bullen und allen Kollegen Geralds, ausgenommen einem, dasselbe. Die einzige Ausnahme war Brandon Milheron gewesen. Ihm hatte sie die Wahrheit gesagt, weil sie einesteils Hilfe brauchte, aber andererseits weil Brandon der Einzige gewesen war, der auch nur ansatzweise zu begreifen schien, was sie durchgemacht hatte … und immer noch durchmachte. Er hatte ihre Zeit nicht mit Mitleid vergeudet, und das war eine unendliche Erleichterung gewesen. Jessie hatte auch feststellen dürfen, dass Mitleid im Überfluss im Kielwasser einer Tragödie kam, aber alles Mitleid der Welt nicht mehr wert war als ein Pissloch im Schnee.
    Wie dem auch sei, Polizei und Zeitungsreporter hatten ihre Amnesie akzeptiert – wie den Rest der Geschichte -, das war das Entscheidende, und warum auch nicht? Menschen, die ein gravierendes seelisches und körperliches Trauma durchmachten, verdrängten häufig die Erinnerungen an das Geschehene; die Polizisten wussten das noch besser als die Anwälte, und Jessie wusste es besser als alle zusammen. Seit letztem Oktober hatte sie eine Menge über seelisches und körperliches Trauma gelernt. Bücher und Artikel hatten ihr geholfen, plausible Gründe dafür zu finden, nicht über das zu reden, worüber sie nicht reden wollte, aber sonst waren sie keine Hilfe gewesen. Oder vielleicht war sie einfach nicht über die richtigen Fallstudien gestolpert – die von mit Handschellen gefesselten Frauen, die mit ansehen mussten, wie ihre Ehemänner zu Chappi wurden.
    Jessie lachte zu ihrer Überraschung wieder – dieses Mal ein gutes Lachen. War das komisch? Offenbar schon, aber es war auch eines der komischen Dinge, die man nie, niemals jemandem erzählen konnte. Wie zum Beispiel auch, dass der eigene Dad einmal wegen einer Sonnenfinsternis so geil geworden war, dass er einem eine volle Ladung auf die Unterhose abgespritzt hatte. Oder dass man – ein echter Heuler – tatsächlich geglaubt hatte, man könnte von einem Spritzer Wichsbrühe auf dem Hosenboden schwanger werden.
    Wie dem auch sei, die meisten Fallstudien deuteten daraufhin, dass der menschliche Verstand auf extreme Traumata häufig so reagierte wie ein Tintenfisch auf Gefahr – indem er die gesamte Landschaft mit einer Tintenwolke einnebelte, die alles verdeckte. Man wusste, dass etwas geschehen war, und es war kein Tag im Park gewesen, aber das war auch schon alles. Alles andere war fort, von den Tintenschwaden verdeckt. Viele Leute in den Fallstudien sagten das – Leute, die vergewaltigt worden waren, Leute, die in Autounfälle verwickelt waren, Leute, die von Feuern überrascht und zum Sterben in den Schrank gekrochen waren, sogar eine

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