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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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des Glases fing Jessies rechtes Handgelenk wie verrückt an zu jucken. Das passierte nicht immer, war aber auch nicht gerade eine unbekannte Reaktion. Wenigstens hatten die Zuckungen und das unheimliche Meine-Haut-schält-sich-gleich-vom-Knochen-ab-Gefühl weitgehend aufgehört. Eine Zeit lang, vor Weihnachten, hatte Jessie aber tatsächlich geglaubt, sie würde den Rest ihres Lebens aus einer Plastiktasse trinken müssen.
    »Wie geht es Ihrer Pfote heute?«, fragte Meggie, als hätte sie Jessies Juckreiz telepathisch wahrgenommen. Was Jessie keineswegs für eine lächerliche Vorstellung hielt. Manchmal fand sie Meggies Fragen – und die Eingebungen, die sie auslösten – fast ein wenig unheimlich, aber niemals lächerlich.
    Die fragliche Hand, die jetzt im Sonnenstrahl lag, der sie von ihrem Geschriebenen im Mac abgelenkt hatte, steckte in einem schwarzen Handschuh, der mit einem Polymer des Weltraumzeitalters ohne Reibungswiderstand gefüttert war. Jessie vermutete, dass der Brandwundenhandschuh – denn darum handelte es sich – so oder so für einen schmutzigen Krieg entwickelt worden war. Nicht dass sie sich deswegen je geweigert haben würde, ihn anzuziehen, und nicht dass sie nicht dankbar dafür war. Sie war wirklich sehr dankbar. Nach der dritten Hauttransplantation lernte man, dass Dankbarkeit eines der wenigen zuverlässigen Bollwerke des Lebens gegen den Wahnsinn war.
    »Nicht schlecht, Meggie.«
    Meggie zog die linke Braue bis kurz vor Ich-glaube-Ihnennicht-Höhe hoch. »Nicht? Wenn Sie die ganzen drei Stunden, seit Sie hier drinnen sind, auf der Tastatur getippt haben, singt sie inzwischen bestimmt Ave Maria.«
    »Bin ich wirklich schon seit …?« Sie sah auf die Uhr und stellte fest, dass es so war. Sie warf einen Blick auf den Zähler im oberen Teil des Bildschirms und sah, dass sie auf Seite fünf des Dokuments war, das sie nach dem Frühstück in Angriff genommen hatte. Jetzt war es fast Mittagszeit, und das Überraschendste war, sie war weitgehend bei der Wahrheit geblieben, was Meggies hochgezogene Braue auch sagen mochte: Ihrer Hand ging es wirklich nicht so schlecht. Wenn nötig, hätte sie noch eine Stunde auf die Pille warten können.
    Sie nahm sie trotzdem und schluckte sie mit der Milch hinunter. Als sie den Rest trank, schweiften ihre Augen wieder zum Bildschirm und lasen die Worte dort:
    Niemand hat mich in dieser Nacht gefunden; ich erwachte kurz nach der Dämmerung des nächsten Tages allein. Der Motor war schließlich ausgegangen, aber das Auto war noch warm. Ich konnte Vögel im Wald singen hören, und zwischen den Bäumen sah ich den spiegelglatten See, von dem winzige Dunstwölkchen aufstiegen. Es sah wunderschön aus, aber gleichzeitig habe ich den Anblick gehasst, wie ich seitdem allein den Gedanken daran gehasst habe. Kannst du das verstehen, Ruth? Ich kann es mir nicht vorstellen.
    Meine Hand tat höllisch weh – die Wirkung des Aspirins hatte längst nachgelassen -, aber trotz der Schmerzen verspürte ich ein unglaubliches Gefühl von Frieden und Wohlbefinden. Aber etwas nagte daran. Etwas, was ich vergessen hatte. Zuerst konnte ich mich nicht erinnern, was es war. Ich glaube, mein Gehirn wollte nicht, dass ich mich daran erinnerte. Aber es fiel mir wie aus heiterem Himmel ein. Er hatte auf dem Rücksitz gesessen und sich vorgebeugt, damit er mir die Namen meiner sämtlichen Stimmen ins Ohr flüstern konnte.
    Ich sah in den Spiegel und stellte fest, dass niemand auf dem Rücksitz war. Das beruhigte mich ein wenig, aber dann …
    An dieser Stelle brach der Satz ab, der Cursor blinkte einladend am Ende des letzten unvollendeten Abschnitts. Er schien sie zu locken, sie anzufeuern, und plötzlich fiel Jessie ein Gedicht aus einem wunderbaren kleinen Buch von Kenneth Patchen ein. Es trug den Titel But Even so, und das Gedicht lautete ungefähr folgendermaßen: »Wenn wir dir wehtun wollten, Liebste,/ Hätten wir dann hier,/Im tiefsten, dunkelsten Teil des Waldes/ Auf dich gewartet?«
    Gute Frage, dachte Jessie und ließ den Blick vom Bildschirm zu Meggie Landis’ Gesicht wandern. Jessie mochte die energische Irin, mochte sie sehr – verdammt, schuldete ihr eine Menge -, aber wenn die kleine Haushälterin die Worte auf dem Bildschirm des Mac gelesen hätte, wäre sie mit dem Wochenlohn in der Tasche die Forest Avenue entlang verschwunden, bevor Jessie hätte sagen können: Liebe Ruth, es wird Dich wahrscheinlich überraschen, nach so vielen Jahren von mir zu hören.
    Aber Megan

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