Das Spiel
Fallschirmspringerin, deren Schirm nicht aufgegangen war, die man aber schwer verletzt, jedoch wie durch ein Wunder am Leben, aus dem großen weichen Moor gezogen hatte, in dem sie gelandet war.
Wie war der Absturz?, hatten sie die Fallschirmspringerin gefragt. Was haben Sie gedacht, als Sie gemerkt haben, dass sich Ihr Fallschirm nicht öffnet und niemals öffnen würde? Und die Fallschirmspringerin hatte geantwortet: Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann mich erinnern, wie mir der Starter auf den Rücken geklopft hat, und ich glaube, ich erinnere mich an den Absprung, aber danach weiß ich nur, wie ich auf der Bahre gelegen und einen der Männer, die mich in den Krankenwagen schoben, gefragt habe, wie schlimm ich verletzt bin. Alles dazwischen ist nur Dunst. Ich nehme an, ich habe gebetet, aber nicht einmal daran kann ich mich mit Sicherheit erinnern.
Vielleicht hast du dich aber doch an alles erinnert, meine fallschirmspringende Freundin, dachte Jessie, und gelogen, genau wie ich. Vielleicht sogar aus denselben Gründen. Meiner Meinung nach wäre es möglich, dass sämtliche Leute in jeder Fallstudie in jedem verdammten Buch, das ich gelesen habe, gelogen haben.
Vielleicht. Ob oder ob nicht, die Tatsache blieb, dass sie sich an die Stunden erinnern konnte, die sie ans Bett gekettet verbracht hatte – vom Klicken des zweiten Schlüssels im Schloss bis zum letzten grauenhaften Augenblick, als sie in den Rückspiegel gesehen und festgestellt hatte, dass das Ding im Haus zum Ding auf dem Rücksitz geworden war, konnte sie sich an alles erinnern. Sie erinnerte sich bei Tage an diese Augenblicke und durchlebte sie nachts immer wieder in schrecklichen Alpträumen, in denen das Wasserglas auf der schiefen Ebene des Regalbretts an ihr vorbeirutschte und auf dem Boden zerschellte; in denen der Streuner den kalten Snack auf dem Boden verschmähte und stattdessen die warme Mahlzeit auf dem Bett vorzog; in denen der böse nächtliche Besucher in der Ecke mit der Stimme ihres Vaters fragte: Liebst du mich, Punkin?, während Maden sich wie Samen aus seinem erigierten Penis ergossen.
Aber sich an etwas zu erinnern und es ständig neu zu durchleben beinhaltete keine Verpflichtung, auch darüber zu reden, nicht einmal, wenn man wegen der Erinnerungen schwitzte und wegen der Alpträume schrie. Sie hatte seit Oktober zehn Pfund abgenommen (nun, das war ein bisschen Schönfärberei, in Wahrheit waren es eher siebzehn), hatte wieder zu rauchen angefangen (eineinhalb Schachteln täglich, dazu vor dem Schlafengehen einen Joint ungefähr von der Größe einer El Producto), ihr Teint war im Eimer und auf einmal wurde ihr Haar auf dem ganzen Kopf grau, nicht nur an den Schläfen. Das wenigstens konnte sie beheben – hatte sie es nicht schon die letzten fünf Jahre gemacht? -, aber bisher hatte sie einfach noch nicht die Energie aufgebracht, Oh Pretty Woman in Westbrook anzurufen und sich einen Termin geben zu lassen. Außerdem, für wen sollte sie sich überhaupt schönmachen? Hatte sie die Absicht, durch die Single-Bars zu ziehen und sich einen der hiesigen Aufreißer anzulachen?
Gute Idee, dachte sie. Ein Typ wird mich fragen, ob er mir einen Drink spendieren darf, ich sage Ja, und während wir darauf warten, dass der Barkeeper sie bringt, sage ich ihm – ganz beiläufig -, dass ich Träume habe, in denen mein Vater Maden statt Samen ejakuliert. Bei dem interessanten Thema wird er mich sicher auf der Stelle bitten, mit ihm in seine Wohnung zu kommen. Er wird nicht einmal ein ärztliches Attest sehen wollen, dass ich HIV-negativ bin.
Mitte November, als sie zur Überzeugung kam, dass die Polizei sie wirklich in Ruhe lassen und der Sex-Aufmacher der Geschichte nicht in die Zeitungen gelangen würde (sie gewöhnte sich nur langsam an den Gedanken, weil ihr vor der Publicity am meisten gegraut hatte), beschloss sie, es wieder mit Therapie bei Nora Callighan zu versuchen. Vielleicht wollte sie nicht, dass diese Sache in ihrem Inneren saß und die nächsten dreißig oder vierzig Jahre giftige Dämpfe ausstieß, während sie verfaulte. Wie anders hätte ihr Leben verlaufen können, wenn sie Nora hätte sagen können, was sich am Tag der Sonnenfinsternis abgespielt hatte? Und was das betraf, wie anders hätte alles verlaufen können, wenn das Mädchen an dem Abend im Frauenzentrum Neuworth nicht in die Küche geplatzt wäre. Vielleicht gar nicht anders … vielleicht ganz anders.
Vielleicht vollkommen anders.
Daher rief sie New Today,
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