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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Grinsen formten. An diesem Punkt begann der endgültige Zusammenbruch von Jessie Burlingames Verstand.
    Nein!, schrie dieser mit einer Stimme, die so dünn wie die Stimme eines Sängers auf einer kratzigen alten 78er Schallplatte klang. Nein, bitte nicht! Es ist nicht fair!
    »Jessie!« Sein stinkender Atem war scharf wie eine Raspel und kalt wie die Luft in einer Fleischtheke. »Nora! Jessie! Ruth! Jessie! Punkin! Goodwife! Jessie! Mami!«
    Ihre vorquellenden Augen sahen, dass das weiße Gesicht jetzt halb in ihrem Haar verborgen war und der grinsende Mund fast ihr Ohr küsste, während er immer und immer wieder sein köstliches Geheimnis flüsterte: »Jessie! Nora! Goody! Punkin! Jessie! Jessie! Jessie!«
    In ihren Augen erfolgte eine weiße Explosion, die lediglich ein großes dunkles Loch hinterließ. Als Jessie hineintauchte, hatte sie einen letzten zusammenhängenden Gedanken: Ich hätte nicht hinsehen sollen – jetzt habe ich mir doch die Augen verbrannt.
    Dann kippte sie ohnmächtig über das Lenkrad. Als der Mercedes gegen eine der großen Pinien prallte, die an diesem Straßenabschnitt an der Böschung standen, rastete der Sicherheitsgurt ein und riss sie wieder zurück. Der Aufprall war so heftig, dass sich der Airbag wahrscheinlich aufgeblasen haben würde, wäre das Modell neu genug gewesen, um mit diesem System ausgerüstet zu sein. Es war jedoch nicht stark genug, den Motor zu beschädigen oder gar abzuwürgen; die gute alte deutsche Wertarbeit hatte wieder einmal triumphiert. Stoßstange und Kühler waren verbogen und die Kühlerfigur schief, aber der Motor schnurrte weiter zufrieden vor sich hin.
    Nach fünf Minuten stellte ein Mikrochip im Armaturenbrett fest, dass der Motor jetzt warm genug war und man die Heizung einschalten konnte. Das Gebläse unter dem Armaturenbrett zischelte leise. Jessie war seitlich gegen die Fahrertür gesunken, wo sie mit ans Fenster gedrückter Wange dalag wie ein müdes Kind, das schließlich aufgegeben hatte und eingeschlafen war, obwohl Großmutters Haus gleich hinter dem nächsten Hügel lag. Über ihr reflektierte der Rückspiegel den verlassenen Rücksitz und die einsame Straße im Mondlicht dahinter.

35
     
     
     
    Es hatte den ganzen Vormittag geschneit – düster, aber gutes Wetter zum Briefeschreiben -, und als ein Sonnenstrahl auf die Tastatur des Mac fiel, sah Jessie überrascht auf und wurde aus ihren Gedanken gerissen. Was sie vor dem Fenster sah, war mehr als bezaubernd; es erfüllte sie mit einer Empfindung, in deren Genuss sie schon lange nicht mehr gekommen war und mit der sie auch für lange Zeit nicht mehr gerechnet hätte, wenn überhaupt. Es war Freude – eine tief empfundene, komplexe Freude, die sie nie hätte erklären können.
    Es hatte nicht aufgehört zu schneien – jedenfalls nicht völlig -, aber die helle Februarsonne war durch die Wolken gebrochen und verlieh der zwölf Zentimeter dicken, frischen Schneedecke und den Schneeflocken, die noch durch die Luft tanzten, eine gleißend diamantweiße Farbe. Das Fenster bot weitreichenden Ausblick auf die Eastern Promenade von Portland, ein Ausblick, der Jessie bei jedem Wetter und in jeder Jahreszeit fasziniert hatte, aber so etwas wie heute hatte sie noch nie gesehen; die Verbindung von Schnee und Sonnenschein hatte die graue Luft über Casco Bay in ein fantastisches Schmuckkästchen voll verschlungener Juwelen verwandelt.
    Wenn richtige Menschen in den Plastikkugeln leben würden, in denen man jederzeit einen Schneesturm aufschütteln kann, würden sie dieses Wetter ständig sehen, dachte sie und lachte. Dieser Laut klang so seltsam fremd in ihren Ohren wie die Freude in ihrem Herzen, und sie brauchte nur einen Augenblick, bis sie dahintergekommen war, warum: Sie hatte seit dem vergangenen Oktober überhaupt nicht mehr gelacht. Sie bezeichnete diese Stunden, die letzten, die sie je am Kashwakamak zu verbringen gedachte (oder einem anderen See, was das betraf), als »meine schwere Zeit«. Sie fand, dieser Ausdruck verriet, was notwendig war, und kein bisschen mehr. Und genau so gefiel es ihr.
    Seither kein Lachen mehr? Null? Zero? Bist du dir da sicher?
    Nicht absolut sicher, nein. Sie vermutete, dass sie in Träumen gelacht haben konnte – geweint hatte sie weiß Gott oft genug -, aber soweit es ihre wachen Stunden anbetraf, war bis heute Funkstille gewesen. An das letzte konnte sie sich deutlich erinnern: Sie hatte mit der linken Hand um den Körper gegriffen, damit sie die

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