Das Spiel
würden, und das war das letzte Mal gewesen, an dem sie – bis heute – an ihre alte Zimmergenossin gedacht hatte – an Ruth Neary, die Ruth, die so unheimlich gerne eine alte Harley-Davidson besessen hätte, aber nicht einmal imstande gewesen war, ein Standardgetriebe zu bedienen, nicht einmal das von Jessies zahmem altem Ford Pinto; Ruth, die sich sogar nach drei Jahren noch häufig auf dem Campus der UNH verlief; Ruth, die immer weinte, wenn sie vergaß, dass sie etwas auf der Herdplatte kochte und es anbrannte. Letzteres passierte ihr so oft, es grenzte schon an ein Wunder, dass sie nie das Zimmer – oder das ganze Wohnheim – in Brand gesteckt hatte. Wie seltsam, dass sich die selbstbewusste Ohne-Scheiß-Stimme in ihrem Kopf als die von Ruth entpuppte.
Der Hund fing wieder an zu bellen. Es klang nicht näher, aber es klang auch nicht weiter entfernt. Sein Besitzer jagte keine Vögel, so viel stand fest; kein Jäger konnte mit so einem Hundeplappermaul etwas anfangen. Und wenn Herr und Hund einfach zu einem Nachmittagsspaziergang unterwegs waren, wie kam es dann, dass das Bellen seit mindestens fünf Minuten von ein und derselben Stelle ertönte?
Weil du vorhin Recht gehabt hast, flüsterte ihr Verstand. Es gibt keinen Herrn. Diese Stimme gehörte weder Ruth noch Goodwife Burlingame, und es war ganz sicher nicht die Stimme, die sie als ihre eigene betrachtete (wie immer die auch sein mochte); sie war sehr jung und sehr ängstlich. Und merkwürdig vertraut, wie Ruths Stimme. Das da draußen ist nur ein Streuner. Er kann dir nicht helfen, Jessie. Er kann uns nicht helfen.
Aber das war womöglich eine zu düstere Einschätzung. Schließlich wusste sie nicht, ob der Hund ein Streuner war, oder? Nicht sicher jedenfalls. Und bis sie es nicht genau wusste, wollte sie’s auch nicht glauben. »Verklagt mich doch, wenn euch das nicht passt«, sagte sie mit leiser, heiserer Stimme.
Inzwischen war da immer noch das Problem Gerald. In all der Panik und den Schmerzen war ihr das irgendwie entfallen.
»Gerald?« Ihre Stimme klang immer noch verstaubt und abwesend. Sie räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Gerald!«
Nichts. Null. Überhaupt keine Reaktion.
Aber das bedeutet nicht, dass er tot ist, also bleib auf dem Teppich, Weib – dreh nicht schon wieder durch.
Sie blieb auf dem Teppich, schönen Dank, und sie hatte auch nicht die Absicht, wieder durchzudrehen. Dennoch verspürte sie ein tiefes, brodelndes Unbehagen im Innersten, ein Gefühl, das einem schrecklichen Heimweh glich. Geralds fehlende Reaktion bedeutete nicht, dass er tot war, das stimmte, aber es hieß, dass er zumindest bewusstlos war.
Und wahrscheinlich tot, fügte Ruth Neary hinzu. Ich will dir nicht die Tour vermasseln, Jess – echt nicht -, aber du hörst ihn nicht atmen, oder? Ich meine, normalerweise kann man Bewusstlose atmen hören; sie holen schnarchend, blubbernd Luft, oder nicht?
»Verdammt, woher soll ich das wissen?« sagte sie, aber das war dumm. Sie wusste es, weil sie die ganze Zeit an der Highschool aus Überzeugung Karbolmäuschen gewesen war, und da brauchte man nicht lange, bis man ziemlich genau wusste, wie sich tot anhörte; es hörte sich nach gar nichts an. Ruth hatte alles über die Jahre gewusst, die sie am Portland City Hospital gearbeitet hatte – ihre »Bettpfannenjahre«, wie sich Jessie manchmal selbst ausdrückte -, aber diese Stimme hätte es auch gewusst, wenn es Ruth nicht gewusst hätte, denn diese Stimme war nicht die von Ruth; es war ihre eigene. Sie musste sich daran erinnern, weil diese Stimme ein so unheimliches Eigenleben zu haben schien.
Wie die Stimmen, die du schon einmal gehört hast, murmelte die junge Stimme. Die Stimmen, die du nach dem dunklen Tag gehört hast.
Aber daran wollte sie nicht denken. Sie wollte niemals daran denken. Hatte sie nicht schon genug Probleme?
Doch Ruths Stimme hatte Recht: Bewusstlose – besonders diejenigen, die als Folge eines kräftigen Schlags auf den Kopf bewusstlos geworden waren – schnarchten normalerweise wirklich. Was bedeutete …
»Er ist wahrscheinlich tot«, sagte sie mit ihrer verstaubten Stimme. »Okay, ja.«
Sie beugte sich nach links, bewegte sich aber behutsam, eingedenk ihres Muskels am Halsansatz, der sich so schmerzhaft verkrampft hatte. Sie hatte das äußerste Ende der Kette, die ihr rechtes Handgelenk fesselte, noch nicht ganz erreicht, als sie einen feisten rosa Arm und eine halbe Hand sah – eigentlich nur die zwei letzten
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