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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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denken. Das Dumme war nur, wenn man erst einmal damit angefangen hatte, konnte man kaum mehr damit aufhören.
    Aber vielleicht verdienst du es nicht anders, meldete sich plötzlich die oberlehrerhafte, fiebrige Stimme von Goody Burlingame zu Wort. Vielleicht. Weil du ihn doch umgebracht hast, Jessie. Diesbezüglich kannst du dir nichts vormachen, weil ich es nicht dulde. Ich bin mir sicher, dass er nicht besonders gut in Form war, und ich bin mir sicher, es wäre früher oder später sowieso passiert – ein Herzanfall im Büro oder vielleicht auf dem Nachhauseweg auf der Überholspur, er mit einer Zigarette in der Hand, die er anzünden wollte, und hinter ihm ein riesiger Achtunddreißigtonner, der hupt, damit er endlich Platz macht und wieder auf die rechte Fahrspur schert. Aber du hast nicht auf früher oder später warten können, richtig? O nein, du doch nicht, nicht Tom Mahouts braves kleines Mädchen Jessie. Du hast nicht einfach daliegen und ihn seinen Saft abschießen lassen können, was? Cosmo Girl Jessie Burlingame sagt: »Kein Mann fesselt mich.« Du hast ihn in Bauch und Eier treten müssen, richtig? Und das hast du machen müssen, als sein Thermostat sowieso schon über der roten Linie war. Bringen wir es auf den Nenner, Teuerste: Du hast ihn ermordet. Darum verdienst du es vielleicht, dass du mit Handschellen an dieses Bett gefesselt bist. Vielleicht …
    »Ach, das ist doch alles Quatsch«, sagte sie. Es war eine unaussprechliche Erleichterung, diese andere Stimme – Ruths Stimme – aus ihrem Mund zu hören.
    Manchmal (nun … vielleicht traf häufig eher den Kern der Sache) hasste sie die Stimme von Goodwife, hasste und fürchtete sie. Sie war häufig albern und zimperlich, das war Jessie klar, aber sie war auch stark, und man konnte nur schwer Nein zu ihr sagen.
    Goody war immer schnell zur Stelle, um ihr zu sagen, dass sie das falsche Kleid gekauft oder den falschen Lieferanten für das Sommerfest beauftragt hatte, das Gerald jedes Jahr für die Partner in der Anwaltskanzlei und deren Frauen gab (davon abgesehen, dass eigentlich Jessie es gab; Gerald stand nur herum und sagte »halb so wild« und ließ sich feiern). Goody bestand immer darauf, dass sie, Jessie, fünf Pfund abnehmen musste. Diese Stimme ließ nicht einmal locker, wenn man Jessies Rippen sehen konnte. Vergiss die Rippen!, kreischte sie in einem Tonfall rechtschaffenen Entsetzens. Sieh dir deine Titten an, altes Mädchen! Und wenn das nicht ausreicht, dass du Knochen kotzt, sieh dir deine Schenkel an!
    »Was für ein Quatsch«, sagte sie und versuchte, es noch nachdrücklicher zu sagen, aber nun hörte sie ein leises Zittern in der Stimme, und das war nicht gut. »Er wusste, dass es mein Ernst war … er wusste es. Wessen Schuld ist es dann?«
    Aber stimmte das wirklich? In gewisser Weise ja – sie hatte gesehen, wie er sich über das hinwegsetzte, was er in ihrem Gesicht sah und aus ihrer Stimme heraushörte, weil es das Spiel verdorben hätte. Aber in anderer Hinsicht – einer weitaus grundlegenderen Hinsicht – wusste sie, dass es ganz und gar nicht stimmte, weil Gerald sie in den letzten zehn oder zwölf Jahren ihres Zusammenlebens fast überhaupt nicht mehr ernst genommen hatte. Er hatte es sich fast zu einer Art zweitem Beruf gemacht, nicht zu hören, was sie sagte, wenn es sich nicht gerade um Mahlzeiten oder darum handelte, wo sie an demund-dem Tag zu der-und-der Zeit sein mussten (also vergiss es nicht, Gerald). Die einzigen anderen Ausnahmen der allgemeinen Hörregel waren unfreundliche Bemerkungen über sein Gewicht oder seinen Alkoholkonsum. Er hörte, was sie zu diesen Themen zu sagen hatte, und es gefiel ihm nicht, aber er konnte sie als Teil einer mythischen Weltordnung abtun: Fische müssen schwimmen, Vögel müssen fliegen, Ehefrauen müssen nörgeln.
    Also was genau hatte sie von diesem Mann erwartet? Dass er sagte: »Aber gewiss, Teuerste, ich werde dich sofort losbinden, und danke, übrigens, dass du mein Gewissen erleichtert hast«?
    Ja, vermutete sie, ein naiver Teil von ihr, ein unberührter und blauäugiger Kleinmädchenteil, hatte genau das erwartet.
    Die Motorsäge, die eine ganze Weile gebrummt und gekreischt hatte, verstummte plötzlich. Hund, Eistaucher und sogar der Wind waren ebenfalls verstummt, jedenfalls vorübergehend, und die Stille schien so dick und greifbar zu sein wie der ungestörte Staub von zehn Jahren in einem leeren Haus. Sie konnte kein Auto und keinen Lastwagenmotor hören, nicht

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