Das Spiel
einmal in der Ferne. Und die Stimme, die jetzt sprach, gehörte ausschließlich ihr selbst. O mein Gott, sagte sie. O mein Gott, ich bin ganz alleine hier draußen. Ich bin ganz allein.
3
Jessie kniff die Augen fest zusammen. Vor sechs Monaten hatte sie vergebliche vier Monate in Therapie verbracht, ohne Gerald etwas zu sagen, weil sie wusste, er würde sarkastisch sein … und sich wahrscheinlich Sorgen machen, was sie alles aus dem Nähkästchen plaudern könnte. Sie hatte als Problem Stress genannt, und Nora Callighan, ihre Therapeutin, hatte ihr eine einfache Entspannungstechnik beigebracht.
Die meisten Menschen denken beim Zählen bis zehn an Donald Duck, der versucht, sich zu beherrschen, hatte Nora gesagt, aber wenn man bis zehn zählt, bekommt man damit in Wirklichkeit die Chance, sämtliche emotionalen Skalen neu einzustellen … und jeder, der sie nicht mindestens einmal täglich neu einstellen muss, hat wahrscheinlich schwerwiegendere Probleme als Ihre oder meine.
Auch diese Stimme war deutlich – so deutlich, dass sie ein kleines, sehnsüchtiges Lächeln auf Jessies Gesicht zauberte.
Ich habe Nora gemocht. Sehr gemocht.
Hatte sie, Jessie, das damals gewusst? Sie stellte zu ihrem gelinden Erstaunen fest, dass sie sich nicht genau erinnern konnte, ebenso wenig wie sie sich erinnern konnte, warum sie aufgehört hatte, dienstagsnachmittags zu Nora zu gehen. Sie vermutete, dass eine Menge Aktivitäten – Sammlungen für die Wohlfahrt, das neue Obdachlosenasyl in der Court Street und vielleicht auch die Beschaffung von Mitteln für die neue Bibliothek -, dass das alles einfach auf einen Schlag zusammengekommen war. Manchmal läuft es eben beschissen, sagt schon ein weiterer dieser angeblich so weisen und doch so geistlosen New-Age-Sprüche. Wahrscheinlich war es sowieso das Beste gewesen, einfach aufzuhören. Wenn man nicht irgendwo einen Schlussstrich zog, ging die Therapie einfach immer weiter, bis man zusammen mit seinem Therapeuten zur großen Gruppentherapie im Himmel tatterte.
Vergiss es – zähl einfach, fang mit den Zehen an. Mach es genau so, wie sie es dir beigebracht hat.
Ja – warum nicht?
Eins ist für Füße, zehn Zehen klein, wie kleine Schweinchen, sind sie nicht fein?
Nur waren acht komisch und schief, und ihre großen Zehen sahen aus wie die Köpfe von Schusterhämmern.
Zwei ist für Beine, schön lang und schön eben.
Nun, so lang nun auch wieder nicht – schließlich war sie nur einen Meter fünfundsiebzig groß -, aber Gerald hatte immer behauptet, sie wären dennoch das Beste an ihr – jedenfalls in der alten Abteilung Sex-Appeal. Diese Behauptung, die sein wahrhaftiger Ernst zu sein schien, hatte sie stets amüsiert. Irgendwie hatte er ihre Knie übersehen, die so hässlich wie die Knoten an Apfelbäumen waren, und die pummeligen Oberschenkel.
Drei mein Geschlecht, das Gott mir gegeben.
Einigermaßen niedlich – ein bisschen zu niedlich, würden viele vielleicht sagen -, aber nicht besonders erleuchtend. Sie hob ein wenig den Kopf, als wollte sie das fragliche Teil betrachten, ließ die Augen aber geschlossen. Sie brauchte die Augen sowieso nicht, um es vor sich zu sehen; sie lebte schon lange Zeit mit diesem speziellen Teil zusammen. Zwischen ihren Beinen befand sich ein Dreieck ingwerfarbener Löckchen rings um einen unscheinbaren Schlitz mit all der ästhetischen Schönheit einer schlecht verheilten Wunde. Dieses Ding – dieses Organ, das in Wirklichkeit nicht mehr war als nur eine tiefe Hautfalte zwischen überkreuzten Muskelsträngen – schien ihr als ein Gegenstand von Mythen reichlich übertrieben zu sein, aber im kollektiven Denken der Männer kam ihm dennoch eine mythische Rolle zu; es war das verzauberte Tal, zu dem selbst die wildesten Einhörner zitternd und mit gesenkten Köpfen hingezogen wurden …
»Mutter Macree, was für ein Quatsch«, sagte sie und lächelte ein wenig, allerdings ohne die Augen aufzuschlagen.
Aber es war kein Quatsch, nicht völlig. Dieser Schlitz war das Objekt aller männlicher Begierde – jedenfalls der heterosexuellen -, aber er war gelegentlich auch Gegenstand unerklärlichen Abscheus, Misstrauens und Hasses. Man hörte diesen dunklen Zorn nicht in allen Witzen, aber er schwang in vielen mit, und manchmal kam er roh wie eine Schwäre zum Vorschein: Was ist eine Frau? Ein Lebenserhaltungssystem für eine Fotze.
Hör auf, Jessie, befahl Goodwife Burlingame. Ihre Stimme klang aufgebracht und angewidert. Hör
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