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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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das Charleypferd in ihrem Deltamuskel nach. Sie stieß einen langen, harschen Stoßseufzer der Erleichterung aus.
    Der Wind – der das Stadium »Brise« schon um einiges hinter sich gelassen hatte, wie sie feststellte – wehte in Böen und strich seufzend durch die Pinien am Hang zwischen Haus und See. In der Küche (die sich, soweit es Jessie betraf, in einem anderen Universum befand), schlug die Tür, die weder sie noch Gerald ganz zugezogen hatten, gegen den aufgequollenen Rahmen: einmal, zweimal, dreimal, viermal. Das waren die einzigen Laute; nur die, sonst keine. Der Hund hatte aufgehört zu bellen, zumindest vorübergehend, und die Motorsäge brummte auch nicht mehr. Selbst der Eistaucher schien Kaffeepause zu machen.
    Die Vorstellung von einem Eistaucher, der Kaffeepause machte, möglicherweise auf einer Luftmatratze trieb und mit ein paar Eistaucherdamen schwatzte, löste ein verstaubtes Krächzen in ihrem Hals aus. Unter nicht so unangenehmen Umständen hätte man es als ein Kichern bezeichnen können. Es löste den letzten Rest ihrer Panik auf; sie hatte immer noch Angst, aber wenigstens wieder Kontrolle über ihr Denken und Handeln. Darüber hinaus hatte sie einen unangenehm metallischen Geschmack auf der Zunge.
    Das ist Adrenalin, Süße, oder was für ein Drüsensekret dein Körper auch immer absondern mag, wenn du die Krallen ausfährst und an den glatten Wänden hochkletterst. Wenn dich jemals jemand fragen sollte, was Panik ist, jetzt kannst du es ihnen sagen: ein emotionaler weißer Fleck, nach dem man das Gefühl hat, als hätte man einen Mundvoll Pennys gelutscht.
    Ihre Unterarme kribbelten, und mittlerweile hatte sich dieses Kribbeln der Empfindung auch in die Finger ausgebreitet. Jessie spreizte und spannte die Hände mehrmals, wobei sie jedes Mal zusammenzuckte. Sie konnte das ferne Geräusch der Handschellen hören, die gegen die Bettpfosten schlugen, und nahm sich einen Moment Zeit, darüber nachzudenken, ob sie und Gerald verrückt gewesen waren – jetzt schien es so, aber sie zweifelte nicht daran, dass Tausende Menschen überall auf der Welt tagtäglich ähnliche Spiele spielten. Sie hatte gelesen, dass es sogar sexuelle Freigeister gab, die sich in ihren Schränken aufhängten und abspritzten, während die Blutzufuhr zum Gehirn langsam zu null schwand. Derlei Neuigkeiten bestärkten sie in ihrer Überzeugung, dass Männer nicht mit einem Penis gesegnet, sondern damit verflucht waren.
    Aber wenn es nur ein Spiel war (nur das und nichts weiter), warum hatte Gerald es dann für notwendig erachtet, richtige Handschellen zu kaufen? Das war einmal eine interessante Frage, oder nicht?
    Möglich, aber ich glaube nicht, dass es im Augenblick die wirklich wichtige Frage ist, Jessie, du etwa?, fragte Ruth Neary in ihrem Kopf. Es war wirklich erstaunlich, wie viele Gedankengänge das menschliche Gehirn gleichzeitig verfolgen konnte. Einer war, dass sie sich gerade fragte, was aus Ruth, die sie zum letzten Mal vor zehn Jahren gesehen hatte, geworden sein mochte. Und es war mindestens drei Jahre her, seit Jessie zuletzt von ihr gehört hatte. Das letzte Lebenszeichen war eine Postkarte gewesen, die einen jungen Mann im herausgeputzten Samtanzug mit Rüschen am Hals zeigte. Der junge Mann hatte den Mund offen und die Zunge anzüglich herausgestreckt gehabt. EINES TAGES KOMMT MEIN MÄRCHEN-PRINZ VORBEIGEZÜNGELT, hatte auf der Karte gestanden. New-Age-Humor, hatte Jessie damals gedacht, wie sie sich noch erinnerte. Die Viktorianer hatten Alexander Pope gehabt; die »Lost Generation« hatte H. L. Mencken gehabt; wir jedoch müssen mit anzüglichen Grußkarten und pseudowitzigen Stoßstangenaufklebern wie SIE HABEN GANZ RECHT, DIE STRASSE GEHÖRT TATSÄCHLICH MIR Vorlieb nehmen.
    Die Karte hatte einen verschwommenen Poststempel aus Arizona getragen und die Information übermittelt, dass Ruth einer Lesbengemeinschaft beigetreten war. Diese Neuigkeit hatte Jessie nicht besonders überrascht; sie hatte sogar darüber nachgedacht, ob ihre alte Freundin, die zutiefst nervtötend und überraschend auf melancholische Art nett sein konnte (manchmal im selben Atemzug), nicht endlich ein Loch auf dem großen Spielbrett des Lebens gefunden haben mochte, das einzig und allein für ihren seltsam geformten Spielstein gebohrt worden war.
    Sie hatte Ruths Postkarte in die oberste linke Schublade ihres Schreibtischs gelegt, wo sie verschiedene Briefe und Karten aufbewahrte, die wahrscheinlich nie beantwortet werden

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