Das Spiel
Finger. Es war seine rechte Hand; das wusste sie, weil er keinen Ehering am dritten Finger trug. Sie konnte die weißen Sicheln seiner Fingernägel sehen. Gerald war wegen seiner Hände und Nägel immer ausgesprochen eitel gewesen. Bis jetzt war ihr nie aufgefallen, wie eitel. Manchmal war es komisch, wie wenig man sah. Wie wenig man sah, auch wenn man glaubte, man hätte alles gesehen.
Mag sein, aber ich will dir noch was sagen, Herzblatt: momentan kannst du die Jalousien runterlassen, weil ich nämlich nichts mehr sehen will. Nein, überhaupt nichts mehr. Aber sich weigern zu sehen war ein Luxus, den sie sich zumindest im Augenblick nicht leisten konnte.
Jessie, die sich weiterhin überaus behutsam bewegte und Hals und Schultern hätschelte, rutschte, so weit es die Kette zuließ, nach links. Viel war es nicht – fünf oder sechs Zentimeter, höchstens -, aber der Winkel wurde dadurch so viel größer, dass sie einen Teil von Geralds Oberarm, einen Teil seiner rechten Schulter und ein winziges Stück des Kopfs sehen konnte. Sie war nicht sicher, bildete sich aber ein, dass sie auch winzige Blutströpfchen an seinem schütteren Haaransatz erkennen konnte. Sie vermutete, es war zumindest theoretisch denkbar, dass das ihrer Fantasie entsprang. Sie hoffte es.
»Gerald?«, flüsterte sie. »Gerald, kannst du mich hören? Bitte antworte mir.«
Keine Antwort. Keine Bewegung. Sie konnte wieder das tiefe, heimwehähnliche Unbehagen verspüren, das wie eine unbehandelte Wunde pochte und pulsierte.
»Gerald?«, flüsterte sie wieder.
Warum flüsterst du? Er ist tot. Der Mann, der dich einmal mit einem Wochenendausflug nach Aruba – ausgerechnet Aruba – überrascht und während einer Silvesterparty deine Krokodillederschuhe auf den Ohren getragen hat … dieser Mann ist tot. Also warum um alles in der Welt flüsterst du?
»Gerald!« Dieses Mal schrie sie seinen Namen. »Gerald, wach auf!«
Der Klang ihrer eigenen schreienden Stimme versetzte sie beinahe wieder in ein panisches, zuckendes Interludium, und das Beängstigendste war nicht Geralds andauernde Unfähigkeit, sich zu bewegen oder zu antworten; es war die Erkenntnis, dass die Panik noch da war, immer noch genau hier, wo sie rastlos um Jessies Denken kreiste, wie ein Raubtier das lodernde Lagerfeuer einer Frau umkreist, die irgendwo von ihren Freunden getrennt wurde und sich in den tiefen, dunklen Weiten des Waldes verirrt hat.
Du hast dich nicht verirrt, sagte Goodwife Burlingame, aber Jessie traute dieser Stimme nicht. Ihre Beherrschung klang gekünstelt, die Vernunft war oberflächlich. Du weißt genau, wo du bist.
Ja, das wusste sie. Sie befand sich am Ende eines kurvigen, ausgefahrenen Feldwegs, der zwei Meilen südlich von hier von der Sunset Lane abzweigte. Der Feldweg war ein Korridor heruntergefallener roter und gelber Blätter gewesen, über die sie und Gerald gefahren waren, und das Laub war ein stummer Hinweis auf die Tatsache, dass dieser Weg, der zum Abschnitt Notch Bay des Kashwakamak führte, in den drei Wochen, seit das Laub sich verfärbt hatte und abfiel, wenig oder gar nicht befahren worden war. Dieses Ende des Sees gehörte fast ausnahmslos den Sommergästen, und soweit Jessie es beurteilen konnte, war der Weg wohl schon seit dem Tag der Arbeit nicht mehr benutzt worden. Alles in allem waren es fünf Meilen, zuerst auf dem Feldweg und dann auf der Sunset Lane, bis man zur Route 117 kam, wo einige Ortsansässige wohnten.
Ich bin ganz alleine hier draußen, mein Mann liegt tot auf dem Boden, und ich bin mit Handschellen ans Bett gefesselt; ich kann schreien, bis ich schwarz werde, es wird mir nichts nutzen, niemand wird mich hören. Der Mann mit der Motorsäge ist wahrscheinlich der nächste, und selbst der ist mindestens vier Meilen entfernt. Er könnte sogar auf der anderen Seite des Sees sein. Der Hund könnte mich hören, aber der Hund ist mit ziemlicher Sicherheit ein Streuner. Gerald ist tot, und das ist jammerschade – ich wollte ihn nicht umbringen, falls ich das getan habe -, aber wenigstens ist es bei ihm schnell gegangen. Bei mir wird es nicht schnell gehen; wenn sich in Portland niemand Sorgen um uns macht, und das müsste eigentlich niemand, jedenfalls nicht so schnell …
Sie sollte so etwas nicht denken; es brachte das Panik-Ding wieder näher. Wenn sie ihr Denken nicht aus diesen Bahnen riss, würde sie dem Panik-Ding bald wieder in die dummen, gierigen roten Augen sehen. Nein, sie sollte so etwas auf gar keinen Fall
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