Das Spiel
sofort auf.
Das, überlegte Jessie, war eine verdammt gute Idee, und sie konzentrierte sich wieder auf Noras Zehnerreim. Vier war für ihre Hüften (zu breit), fünf für ihren Bauch (zu dick). Sechs waren ihre Brüste, die sie für ihr Bestes hielt – Gerald, vermutete sie, brachten die Spuren blauer Äderchen unter den anmutigen Kurven etwas aus der Fassung; bei den Brüsten der Frauen in seinen Hochglanzmagazinen sah man diese Spuren der Leitungen unter Putz nicht. Und den Mädchen in den Magazinen wuchsen auch keine winzigen Härchen aus den Warzenhöfen.
Sieben waren ihre zu breiten Schultern, acht ihr Hals (der gut ausgesehen hatte, in den letzten Jahren aber eindeutig zu faltig geworden war), neun war ihr fliehendes Kinn, und zehn …
Moment mal! Nur einen gottverdammten Moment mal!, wandte die Ohne-Scheiß-Stimme erbost ein. Was ist das denn für ein dummes Spiel?
Jessie kniff die Augen noch fester zusammen, da das Ausmaß der Wut in dieser Stimme und ihre Eigenständigkeit sie betroffen machten. In ihrer Wut schien es überhaupt keine Stimme zu sein, die aus dem inneren Kern ihres Verstandes stammte, sondern ein richtiger Eindringling – ein fremder Geist, der sie übernehmen wollte wie der Geist von Panzuzu das kleine Mädchen in Der Exorzist übernahm.
Möchtest du nicht antworten?, fragte Ruth Neary – alias Panzuzu. Okay, vielleicht war die Frage zu kompliziert. Ich will es dir wirklich einfach machen, Jess: Wer hat aus Nora Callighans einfacher kleiner Entspannungsübung ein Mantra des Selbsthasses gemacht?
Niemand, dachte sie kläglich zurück, wusste aber sofort, dass die Ohne-Scheiß-Stimme das nie akzeptieren würde, daher fügte sie hinzu: Goodwife. Sie war es.
Nein, sie war es nicht, gab Ruths Stimme augenblicklich zurück. Sie hörte sich ob dieses halbherzigen Versuchs, die Schuld abzuwälzen, erbost an. Goody ist ein Dummerchen und hat momentan große Angst, aber im Grunde ihrer Seele ist sie ein liebes Ding, und ihre Absichten waren immer gut. Die Absichten derjenigen, die Noras Liste verändert hat, waren wirklich böse, Jessie. Siehst du das nicht? Kannst du nicht …
»Ich sehe gar nichts, weil ich die Augen zugemacht habe«, sagte sie mit zitternder, kindlicher Stimme. Sie schlug sie beinahe auf, aber etwas sagte ihr, dass das die Situation nur verschlimmern, statt verbessern würde.
Wer war es, Jessie? Wer hat dir beigebracht, dass du hässlich und wertlos bist? Wer hat Gerald Burlingame als verwandte Seele und als deinen Märchenprinzen erkoren, und das wahrscheinlich Jahre bevor du ihn tatsächlich bei dieser Party der Republikanischen Partei kennengelernt hast? Wer hat entschieden, dass er nicht nur das war, was du brauchtest, sondern was du verdient hast?
Mit einer immensen Anstrengung fegte Jessie diese Stimme – alle Stimmen, wie sie inbrünstig hoffte – aus ihrem Denken. Sie begann das Mantra wieder, und dieses Mal sprach sie es laut aus.
»Eins ist für Füße, zehn Zehen klein, zwei ist für Beine, schön lang und schön eben, drei mein Geschlecht, das Gott mir gegeben, vier sind die Hüften, rundlich und kess, fünf ist der Bauch, wo landet, was ich ess.« Sie konnte sich an die anderen Verse nicht mehr erinnern (was wahrscheinlich ein Segen war; sie hatte den starken Verdacht, dass Nora sie sich selbst ausgedacht hatte, wahrscheinlich im Hinblick auf Veröffentlichung in einem der weichen und sehnsüchtigen Selbsthilfemagazine, die auf dem Kaffeetischchen in ihrem Wartezimmer lagen), daher fuhr sie ohne sie fort: »Sechs sind die Brüste, sieben die Schultern, acht mein Hals …«
Sie verstummte, holte Luft und stellte zufrieden fest, dass ihr Herzschlag von Galopp zu schnellem Trab gebremst worden war.
»… neun ist mein Kinn, und zehn sind meine Augen. Augen, öffnet euch!«
Sie ließ den Worten Taten folgen, und das Schlafzimmer gewann ruckartig grelle Konturen rings um sie herum, irgendwie neu und – zumindest augenblicklich – fast so entzückend wie damals, als sie und Gerald ihren ersten Sommer in diesem Haus verbracht hatten. 1979, einem Jahr, das einmal den Beigeschmack von Science-Fiction gehabt hatte, heute aber unendlich veraltet zu sein schien.
Jessie betrachtete die grauen Bretterwände, die hohe weiße Decke, wo sich Wellen des Sees spiegelten, und die beiden großen Fenster, eines auf jeder Seite des Betts. Das links von ihr zeigte nach Westen und bot einen Ausblick auf die Veranda, das sanft abfallende Land dahinter und das
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