Das Spiel
dann wird das ewig so weitergehen. Ich kann sonst niemanden fragen und muss es doch wissen. Bitte hilf mir.«
Er ließ meine Hand los, holte irgendwo aus dem Inneren dieses schreiend ordentlichen Anwaltsanzugs ein Taschentuch und wischte mir damit das Gesicht ab. Das machte er so behutsam wie meine Mutter, wenn ich in die Küche kam und mir die Augen wund heulte, weil ich mir die Knie aufgeschürft hatte – das war natürlich zu der Zeit, bevor ich zur Nervensäge der Familie wurde, wie Du wissen solltest.
»Na gut«, sagte er schließlich. »Ich werde herausfinden, was ich kann, und dir alles erzählen … außer natürlich, wenn du mich bitten solltest, damit aufzuhören. Aber ich habe das Gefühl, du solltest dich lieber gut anschnallen.«
Er hat eine Menge herausgefunden, und das werde ich Dir gleich weitergeben, Ruth, aber vorher eine ernste Warnung: Er hat Recht gehabt mit dem Anschnallen. Wenn Du die nächsten Seiten überspringen willst, habe ich vollstes Verständnis dafür. Ich wünschte, ich müsste sie gar nicht erst schreiben, aber ich habe das Gefühl, dass das auch zur Therapie gehört. Zum abschließenden Teil, hoffe ich.
Dieses Kapitel der Geschichte – das man wohl mit »Brandons Erzählung« überschreiben könnte – fängt 1984 oder 1985 an. Da kamen im Lake District im Westen von Maine erstmals Fälle von Grabschändung vor. Ähnliche Fälle wurden aus einem halben Dutzend weiterer Orte bis über die Landesgrenze nach New Hampshire gemeldet. Umgekippte Grabsteine, aufgesprühte Graffiti und gestohlene Wimpel sind im Hinterland eigentlich an der Tagesordnung, und selbstverständlich muss man am 1. November immer ein paar zermatschte Kürbisse aus dem lokalen Friedhof räumen, aber diese Verbrechen waren mehr als grober Unfug oder Diebstahl. Entweihung war das Wort, das Brandon gebrauchte, als er mir Ende letzter Woche den ersten Bericht brachte, und dieses Wort stand 1988 auf den meisten polizeilichen Meldeformularen.
Die Verbrechen selbst kamen den Leuten, die sie entdeckten, und den ermittelnden Beamten abnormal vor, aber der modus operandi war durchaus vernünftig; gründlich organisiert und ausgeführt. Jemand – möglicherweise zwei oder drei Jemande, aber wahrscheinlich ein Einzelner – brach in Grüfte und Mausoleen von Kleinstadtfriedhöfen ein, was er so geschickt und geübt machte wie ein langjähriger Einbrecher. Er kam offensichtlich mit Bohrern, Bolzenschneidern, Sägen und möglicherweise einer Winde zum Tatort – Brandon sagt, dass heutzutage viele Geländewagen damit ausgerüstet sind.
Die Einbrüche betrafen immer Grüfte und Mausoleen, niemals einzelne Gräber, und fast alle erfolgten im Winter, wenn der Boden zu hart zum Graben war und die Leichen verstaut werden mussten, bis es taute. Wenn sich der Eindringling Zugang verschafft hatte, machte er mit Bohrer und Bolzenschneider die Särge auf. Er nahm den Leichen systematisch jeglichen Schmuck ab, mit dem sie begraben worden waren; er brach Goldzähne und Zähne mit Goldfüllungen mit einer Zange heraus.
Solche Taten sind verabscheuungswürdig, aber zumindest verständlich. Aber der Typ hielt sich nicht nur mit Diebstahl auf. Er pulte Augen heraus, riss Ohren ab, schnitt Toten die Kehlen durch. Im Februar 1989 wurden zwei Leichen auf dem Friedhof Chilton Remembrance ohne Nase gefunden – er hatte sie offenbar mit Hammer und Meißel abgeschlagen. Der Beamte, der die gefunden hatte, sagte Brandon: »Muss leicht gewesen sein – es war gefroren da drin, und sie sind wahrscheinlich wie Eiszapfen abgebrochen. Die Frage ist nur, was macht jemand mit zwei tiefgefrorenen Nasen, wenn er sie hat? An den Schlüsselanhänger binden? Vielleicht mit Frischkäse besprühen und in der Mikrowelle wärmen? Was?«
Fast alle geschändeten Leichen wurden ohne Hände und Füße gefunden, manchmal auch ohne Arme und Beine, und in einigen Fällen hatte der Mann sogar den Kopf und Geschlechtsorgane mitgenommen. Gerichtsmedizinische Untersuchungen ergaben, dass er eine Axt und ein Schlachtermesser für das Grobe benutzt hatte, sowie eine Vielzahl von Skalpellen für die Feinarbeit. Und er war nicht einmal schlecht. »Ein begabter Amateur«, sagte einer der Deputies des Chamberlain County zu Brandon. »Ich wollte nicht, dass er mir die Gallenblase operiert, aber ich würde mir ein Muttermal von ihm entfernen lassen … das heißt, wenn er voll Malodon oder Prozac wäre.«
In einigen Fällen hat er Leichen und/oder Schädel aufgeschnitten
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