Das Spiel
meine, ich hatte vor, mit meinem Lear Jet nach New York zu fliegen – im Vier Jahreszeiten essen, im Birdland die Nacht durchtanzen -, aber da Gerald tot ist, wäre das wohl ein wenig pietätlos. Und da ich an die guten Bücher momentan nicht herankomme – an die schlechten übrigens auch nicht, was das betrifft -, könnte ich mich vielleicht doch damit begnügen, wenigstens den Trostpreis zu bekommen.
Also gut; wie sollte sie vorgehen?
»Ganz vorsichtig«, sagte sie. »So sollst du vorgehen.«
Sie zog sich an den Handschellen in die Höhe und studierte das Glas erneut eine Zeit lang. Dass sie die Oberfläche des Regals nicht sehen konnte, erschien ihr jetzt als Nachteil. Sie hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, was sich auf ihrem Ende befand, aber bei dem von Gerald und dem Niemandsland in der Mitte war sie sich nicht so sicher. Das war natürlich nicht überraschend, denn wer, außer jemand mit einem fotografischen Gedächtnis, hätte eine vollständige Inventur aller Kleinigkeiten auf einem Schlafzimmerregal machen können? Wer hätte je gedacht, dass das einmal wichtig sein würde?
Nun, jetzt ist es wichtig. Ich lebe in einer Welt, in der sich alle Perspektiven verändert haben.
Ja, wahrhaftig. In dieser Welt konnte ein streunender Hund furchteinflößender als Freddy Krueger sein, das Telefon stand in der Twilight Zone, und die gesuchte Wüstenoase, das Ziel von tausend bärbeißigen Fremdenlegionären in hundert Wüstenromanzen, war ein Glas Wasser, in dem die letzten Reste von Eiswürfeln trieben. In dieser neuen Weltordnung war das Regal über dem Bett zu einem mindestens genauso wichtigen Verbindungsweg wie der Panamakanal geworden, und ein altes Western- oder Krimitaschenbuch am falschen Fleck konnte zu einer tödlichen Straßensperre werden.
Glaubst du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?, fragte sie sich unbehaglich, aber in Wahrheit übertrieb sie nicht. Es würde schon unter günstigsten Umständen eine Mission gegen jede Chance werden, aber wenn Gerümpel auf der Startbahn lag, vergiss es. Ein einziger schmaler Hercule Poirot – oder einer der Star Trek- Romane , die Gerald las und dann wie benutzte Servietten wegwarf – würde durch den Winkel nicht auf dem Regal zu sehen sein, aber mehr als ausreichen, das Wasserglas aufzuhalten oder umzukippen. Nein, sie übertrieb nicht. Die Perspektiven dieser Welt hatten sich verändert, und zwar so sehr, dass sie an diesen Science-Fiction-Film denken musste, wo der Held zu schrumpfen anfing und immer kleiner wurde, bis er im Puppenhaus seiner Tochter lebte und Angst vor der Hauskatze hatte. Sie musste die neuen Regeln raschestmöglich lernen … lernen und danach leben.
Nur nicht den Mut verlieren, Jessie, flüsterte Ruths Stimme.
»Keine Bange«, sagte sie. »Ich werde es versuchen – wirklich. Aber manchmal ist es gut zu wissen, womit man es zu tun hat. Ich glaube, das macht manchmal den Unterschied aus.«
Sie drehte das rechte Handgelenk, so weit sie konnte, vom Körper weg, dann hob sie den Arm. In dieser Haltung sah sie wie ein Frauenumriss in einer Reihe ägyptischer Hieroglyphen aus. Sie strich mit den Fingern wieder über das Regal und tastete nach Hindernissen an der Stelle, wo das Glas, wie sie hoffte, landen würde.
Sie berührte ein Stück relativ dickes Papier, strich kurz mit dem Daumen darüber und versuchte zu ergründen, was das sein konnte. Zuerst vermutete sie, dass es ein Zettel vom Notizblock wäre, der normalerweise im Durcheinander auf dem Telefontischchen lag, aber dafür war es nicht dünn genug. Ihr Blick fiel auf eine der Zeitschriften – entweder Time oder Newsweek, Gerald hatte beide mitgebracht -, die verkehrt herum neben dem Telefon lagen. Sie erinnerte sich, wie er eine der Zeitschriften hastig durchgeblättert hatte, während er die Socken auszog und das Hemd aufknöpfte: Das Papier auf dem Regal war wahrscheinlich eine dieser nervtötenden Abonnementskarten, die immer in die Zeitschriften vom Kiosk gesteckt wurden. Gerald legte diese Karten häufig beiseite, damit er sie später als Lesezeichen benutzen konnte. Es konnte auch etwas anderes sein, aber Jessie kam zu dem Ergebnis, dass das für ihre Pläne so oder so egal war. Es war auf jeden Fall nicht hart und dick genug, das Glas aufzuhalten oder umzukippen. Sonst war nichts da oben, zumindest nicht in Reichweite ihrer ausgestreckten, tastenden Finger.
»Okay«, sagte Jessie. Ihr Herz hatte heftig zu klopfen angefangen. Ein sadistischer
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