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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Piratensender in ihrem Kopf versuchte, ihr ein Bild des Glases zu übertragen, wie es vom Regal fiel, aber sie blockte dieses Bild hastig ab. »Sachte; sachte kann es gehen. Langsam und sachte gewinnt man das Rennen. Hoffe ich.«
    Jessie behielt die rechte Hand, wo sie war, obwohl es ihr nicht guttat, sie in dieser Richtung vom Körper wegzuhalten – es schmerzte jetzt schon wie der Teufel -, hob die linke (meine Aschenbecherwurfhand, dachte sie mit einem grimmigen Anflug von Humor) und umklammerte damit das Regalbrett hinter dem letzten Stützhaken auf ihrer Seite des Betts.
    Also los, dachte sie und drückte mit der linken Hand nach unten. Nichts geschah.
    Wahrscheinlich bin ich zu nahe an der letzten Stütze und bekomme nicht genügend Hebelwirkung. Das Problem ist die verdammte Handschellenkette. Sie ist so kurz, dass ich das Regal nicht so weit außen zu fassen kriege, wie es eigentlich nötig wäre.
    Wahrscheinlich richtig, aber diese Einsicht änderte nichts an der Tatsache, dass sie mit der linken Hand da, wo sie nun einmal war, nicht das Geringste bei dem Regal ausrichtete. Sie musste die Finger ein wenig weiter abspreizen – wenn sie konnte – und hoffen, dass das genügte. Das war die reine Witzbuchphysik, simpel, aber tödlich. Komischerweise konnte sie jederzeit unter das Regal greifen und es hochdrücken. Das brachte nur ein winziges Problem mit sich – das Glas würde in die falsche Richtung rutschen, von Geralds Ende fallen und auf dem Boden zerschellen. Wenn man es genauer betrachtete, sah man ein, dass die Situation wirklich ihre komische Seite hatte; sie war wie ein Bitte lächeln- Video aus der Hölle.
    Plötzlich ließ der Wind nach, und die Geräusche aus der Diele waren auf einmal sehr laut. »Schmeckt er dir, Pisskopf?«, kreischte Jessie. Schmerzen zerrissen ihre Kehle, aber sie hörte nicht auf – konnte nicht aufhören. »Das hoffe ich, denn wenn ich hier rauskomme, werde ich dir den Kopf wegpusten!«
    Große Worte, dachte sie. Sehr große Worte für eine Frau, die nicht mehr weiß, ob Geralds alte Schrotflinte – die seinem Vater gehört hatte – hier oder auf dem Dachboden des Hauses in Portland ist.
    Dennoch folgte ein gnädiger Augenblick der Stille aus der schattenhaften Welt jenseits der Schlafzimmertür. Es war fast, als würde der Hund auf seine aufmerksamste, ernsteste Weise über diese Drohung nachdenken.
    Dann begann das Schmatzen und Kauen von neuem.
    Jessies rechtes Handgelenk zuckte vielsagend, war kurz vor einem Krampf und warnte sie, dass sie lieber sofort mit ihrer Aufgabe weitermachen sollte … das hieß, falls sie überhaupt eine Aufgabe hatte.
    Sie beugte sich nach links und streckte die Hand, so weit es die Kette zuließ, aus. Dann übte sie wieder Druck aus. Zuerst geschah nichts. Sie drückte fester, hatte die Augen fast zu Schlitzen zusammengepresst und die Mundwinkel nach unten gezogen. Es war das Gesicht eines Kindes, das mit einer Dosis bitterer Medizin rechnete. Kurz bevor sie den Maximaldruck, den ihre schmerzenden Armmuskeln ausüben konnten, erreicht hatte, spürte sie eine winzige Bewegung des Regals, eine so winzige Veränderung im einheitlichen Sog der Schwerkraft, dass sie sie mehr erahnte als tatsächlich spürte.
    Wunschdenken, Jess – alles nur Wunschdenken und nichts weiter.
    Nein. Es war eine Sinneswahrnehmung, die möglicherweise von ihrer Angst in die Stratosphäre geschossen worden war, aber es war kein Wunschdenken.
    Sie ließ das Regal los, blieb einige Augenblicke nur ruhig liegen, atmete tief durch und gönnte ihren Muskeln Erholung. Sie wollte nicht, dass sie im entscheidenden Augenblick zuckten oder sich verkrampften. Sie hatte auch ohne das genug Probleme, recht schönen Dank. Als sie glaubte, dass sie so bereit war, wie sie nur sein konnte, legte sie die linke Hand um den Bettpfosten und rieb sie daran hinauf und hinab, bis der Schweiß auf ihrer Handfläche getrocknet war und das Mahagoni quietschte. Dann streckte sie den Arm aus und umklammerte das Regal wieder. Es war Zeit.
    Aber ich muss vorsichtig sein. Das Regal hat sich bewegt, keine Frage, und es wird sich weiter bewegen, aber ich werde alle Kraft aufbieten müssen, das Glas in Bewegung zu setzen … das heißt, wenn ich es überhaupt schaffe. Und wenn ein Mensch am Ende seiner Kraft ist, lässt seine Körperbeherrschung nach.
    Das stimmte, aber es war nicht das Entscheidende. Das Entscheidende war: Sie hatte kein Gefühl für den Punkt, an dem das Regal kippen würde.

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