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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Überhaupt keins.
    Jessie erinnerte sich, wie sie einmal mit ihrer Schwester Maddy auf dem Spielplatz hinter der Grundschule von Falmouth geschaukelt hatte – sie waren eines Sommers früher vom See zurückgekehrt, und ihr schien, als hätte sie den ganzen August mit Maddy als Spielgefährtin auf der Wippe mit ihrer abblätternden Farbe verbracht -, und sie hatten perfekt balancieren können, wenn ihnen danach zumute war. Maddy, die ein bisschen mehr wog, musste nur eine Polänge nach innen rutschen. Lange, heiße Nachmittage des Übens, während sie einander beim Auf und Ab Seilhüpflieder vorsangen, hatten ihnen ermöglicht, den Balancepunkt jeder Wippe mit fast wissenschaftlicher Exaktheit herauszufinden; die sechs verzogenen grünen Balken, die in einer Reihe auf dem kochend heißen Asphalt standen, waren ihnen fast wie Lebewesen vorgekommen. Aber jetzt spürte sie diese begierige Vitalität nicht unter den Fingern. Sie musste einfach ihr Bestes geben und hoffen, dass es gut genug war.
    Und auch wenn die Bibel das Gegenteil behauptet, lass deine linke Hand nicht vergessen, was die rechte tun soll. Die linke mag deine Aschenbecherwurfhand sein, aber deine rechte sollte lieber die Wasserglasfanghand sein, Jessie. Du hast nur auf wenigen Zentimetern des Regals eine Chance, es zu erwischen. Wenn es daran vorbeirutscht, spielt es keine Rolle, ob es stehen bleibt – es wird dann genauso außer Reichweite sein wie jetzt.
    Jessie glaubte nicht, dass sie vergessen konnte, was ihre rechte Hand machte – sie tat zu weh. Ob sie imstande sein würde, das zu tun, was Jessie von ihr verlangte, stand auf einem ganz anderen Blatt. Sie verstärkte den Druck auf die linke Seite des Regals so konstant und langsam, wie sie konnte. Ein beißender Schweißtropfen lief ihr in den Augenwinkel, und sie blinzelte ihn weg. Irgendwo schlug die Hintertür wieder, aber die hatte sich zum Telefon in das andere Universum gesellt. Hier waren nur das Glas, das Regal und Jessie. Irgendwie rechnete sie damit, dass das Regal wie ein brutaler Springteufel unvermittelt hochklappen würde, so dass alles davonkatapultiert wurde, und sie versuchte, sich gegen die mögliche Enttäuschung zu wappnen.
    Mach dir darüber Gedanken, wenn es passiert, Süße. Vergiss derweil deine Konzentration nicht. Ich glaube, es tut sich was.
    Es tat sich wirklich etwas. Sie konnte wieder die winzige Veränderung spüren – das Gefühl, als würde sich das Regal an einem Punkt auf Geralds Seite lösen. Dieses Mal ließ Jessie den Druck nicht nach, sondern verstärkte ihn, bis die Muskeln in ihrem linken Oberarm als harte kleine Wölbungen vorstanden, die vor Anstrengung zitterten. Sie stieß eine Reihe kurzer, explosionsartiger Grunzlaute aus. Das Gefühl, dass das Regal sich löste, wurde immer stärker.
    Und plötzlich war die kreisrunde Oberfläche des Wassers in Geralds Glas eine schiefe Ebene, und sie hörte die letzten Eissplitter leise klirren, als sich das rechte Ende des Regals tatsächlich hob. Das Glas selbst bewegte sich aber nicht, und da kam ihr ein grässlicher Gedanke: Was war, wenn etwas von dem Kondenswasser, das am Glas hinunterlief, den Untersetzer aus Pappkarton durchnässt hatte, auf dem es stand? Was war, wenn dieser an dem Regalbrett festklebte?
    »Nein, das darf nicht sein.« Die Worte kamen als einziges, ununterbrochenes Flüstern heraus, wie das Nachtgebet eines müden Kindes. Sie drückte fester auf das linke Ende des Regals und bot dabei alle Kraft auf. Nun war auch das allerletzte Pferd aufgezäumt; der Stall war leer. »Bitte lass es nicht so sein. Bitte.«
    Geralds Ende des Regals stieg weiter an und wackelte wild. Ein Döschen Rouge von Max Factor fiel von Jessies Ende und landete auf dem Boden neben der Stelle, wo Geralds Kopf gelegen hatte, bevor der Hund gekommen war und ihn vom Bett weggezerrt hatte. Und nun fiel ihr eine neue Möglichkeit – mehr eine Wahrscheinlichkeit – ein. Wenn sie den Winkel des Regals noch mehr erhöhte, würde es einfach auf den L-Haken hinunterrutschen, samt Glas und allem, wie ein Schlitten, der einen verschneiten Hang hinunterutschte. Wenn sie das Regal als Wippe betrachtete, konnte sie Schwierigkeiten bekommen. Es war keine Wippe; es hatte keinen zentralen Angelpunkt, an dem es befestigt war.
    »Rutsch, du Miststück!«, schrie sie das Glas mit einer schrillen, atemlosen Stimme an. Sie hatte Gerald vergessen; sie hatte vergessen, dass sie durstig war; hatte alles vergessen außer dem Glas, das jetzt in

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