Das Spiel
einem Winkel geneigt war, dass das Wasser fast über den Rand lief, und sie konnte nicht verstehen, warum es nicht einfach umfiel. Aber es fiel nicht; es blieb einfach stehen, wo es gestanden hatte, als wäre es auf der Stelle festgeklebt. »Rutsch!«
Plötzlich rutschte es.
Die Bewegung verlief so konträr zu ihren schwärzesten Vorstellungen, dass sie fast nicht begreifen konnte, was vor sich ging. Später fiel ihr ein, dass das Abenteuer des rutschenden Glases etwas alles andere als Bewundernswertes über ihre eigene Denkweise verriet: Sie war so oder so auf ein Scheitern vorbereitet gewesen. Der Erfolg machte sie sprachlos.
Die kurze, reibungslose Reise des Glases auf dem Regal zu ihrer rechten Hand hin verblüffte Jessie so sehr, dass sie mit der linken beinahe fester gezogen hätte, eine Bewegung, die das prekäre Gleichgewicht des Bretts mit Sicherheit zerstört hätte, so dass es krachend auf den Boden gefallen wäre. Dann berührten ihre Finger das Glas tatsächlich, und sie schrie wieder. Es war der Schrei einer Frau, die gerade in der Lotterie gewonnen hatte.
Das Regalbrett zitterte, fing an zu rutschen und hielt dann inne, als wäre ihm ein rudimentärer Verstand eigen, mit dem es überlegte, ob es das wirklich wollte oder nicht.
Nicht viel Zeit, Süße, warnte Ruth sie. Pack das verdammte Ding, solange die Gelegenheit günstig ist.
Jessie versuchte es, aber ihre Fingerspitzen rutschten nur an der glatten, nassen Oberfläche des Glases ab. Es schien, als gäbe es nichts zu packen, und sie bekam mit den Fingern nicht genügend Halt an dem dreimal verfluchten Ding, um es festzuhalten. Wasser ergoss sich über ihre Hand, und jetzt spürte sie, selbst wenn das Regal hielt, würde das Glas gleich umkippen.
Einbildung, Süße – nur die Vorstellung, dass eine traurige kleine Punkin wie du nie etwas richtig machen kann.
Das traf fast genau ins Schwarze – so genau, dass ihr unbehaglich zumute wurde -, aber es war nicht genau im Schwarzen, dieses Mal nicht. Das Glas war wirklich im Begriff zu kippen, wirklich und wahrhaftig, und sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was sie machen konnte, um das zu verhindern. Warum hatte sie nur so kurze, hässliche kleine Wurstfinger? Warum? Wenn sie sie nur ein Stückchen weiter um das Glas legen könnte …
Ein Alptraumbild aus einer alten Fernsehwerbung fiel ihr ein: eine lächelnde Frau mit einer Frisur im Stil der fünfziger Jahre, die ein Paar blaue Gummihandschuhe anhatte. So flexibel, Sie können eine Münze damit aufheben!, brüllte die Frau durch ihr Lächeln. Zu schade, dass du nicht ein Paar hast, kleine Punkin oder Goodwife oder wer du auch immer sein magst! Vielleicht könntest du damit das verdammte Glas packen, bevor alles auf dem Scheißregal den Expresslift nimmt!
Jessie stellte plötzlich fest, dass die lächelnde, brüllende Frau mit den Gummihandschuhen von Playtex ihre Mutter war, und ein trockenes Schluchzen entrang sich ihr. Es war wie ein schreckliches Omen, das nicht nur auf den Tod hindeutete, sondern einen ganzen Friedhof garantierte.
Gib nicht auf, Jessie!, schrie Ruth. Noch nicht! Du bist dicht dran! Ich schwöre es!
Sie übte mit dem letzten Rest Kraft Druck auf die linke Seite des Regalbretts aus und betete unzusammenhängend, dass es nicht rutschen würde – noch nicht: Oh, bitte lieber Gott, wer immer Du bist, bitte lass es nicht rutschen, noch nicht, noch nicht.
Das Brett rutschte … aber nur ein bisschen. Dann hielt es wieder, weil es vielleicht vorübergehend von einem Splitter oder einer Unebenheit im Holz gehalten wurde. Das Glas rutschte ihr etwas weiter in die Hand, und jetzt – immer verrückter – schien es ebenfalls zu sprechen, das verdammte Glas. Es hörte sich an wie einer dieser bärbeißigen Großstadttaxifahrer, die vor lauter Weltverdruss einen Dauerständer zu haben scheinen: Herrgott, Lady, was soll ich denn noch machen? Mir einen verdammten Griff wachsen lassen und mich für Sie in einen
Scheißkrug verwandeln? Ein erneuter Wasserguss tropfte auf Jessies überdehnte rechte Hand. Jetzt würde das Glas fallen, jetzt war es unvermeidlich. In Gedanken konnte sie schon den Eiswassersturzbach spüren, der ihr den Nacken hinunterlief.
»Nein!«
Sie drehte die rechte Schulter ein Stück weiter, öffnete die rechte Hand noch ein bisschen und ließ das Glas eine Winzigkeit tiefer in die verspannte hohle Handfläche gleiten. Die Handschelle schnitt ihr in die Hand und jagte schmerzhafte Stiche bis zum Ellbogen,
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