Das Spiel
Handschellen ans Bett gefesselt und nicht mehr imstande wegzulaufen.
»Hilf mir«, sagte sie in das leere Schlafzimmer. Jetzt, wo sie an das blonde Mädchen mit dem unheimlich ruhigen Gesicht und der ebensolchen Stimme gedacht hatte, die die alten kreisrunden Narben auf den sonst so makellosen Brüsten zeigte, konnte Jessie sie nicht mehr aus dem Kopf bekommen, ebenso wenig wie das Wissen, dass es keine Ruhe gewesen war, sondern vielmehr eine absolute und umfassende Losgelöstheit von dem schrecklichen Erlebnis, das ihr widerfahren war. Irgendwie wurde das Gesicht des blonden Mädchens zu ihrem Gesicht, und als Jessie sprach, sprach sie mit der zitternden, demütigen Stimme eines Atheisten, dem alles genommen wurde, außer einem letzten, hoffnungslosen Gebet. »Bitte hilf mir.«
Nicht Gott antwortete ihr, sondern der Teil in ihr, der offenbar nur sprechen konnte, wenn er sich als Ruth Neary verkleidete. Die Stimme hörte sich sanft an … aber nicht sehr hoffnungsvoll. Ich versuche es, aber du musst mich unterstützen. Ich weiß, du bist bereit, schmerzhafte Dinge auf dich zu nehmen, aber du musst vielleicht auch schmerzhafte Gedanken denken. Bist du dazu bereit?
»Es geht nicht ums Denken«, sagte Jessie zitternd und dachte: So hört sich also Goodwife Burlingame laut an. »Es geht ums … nun … Entkommen .«
Du musst sie vielleicht zum Schweigen bringen, sagte Ruth. Sie ist ein wichtiger Teil von dir, Jessie – von uns -, und sie ist wirklich kein schlechter Mensch, aber sie hat schon viel zu lange die Oberhand, und in so einer Situation taugt ihre Art, mit der Welt umzugehen, nicht viel. Oder möchtest du das bestreiten?
Jessie wollte weder das noch etwas anderes bestreiten. Sie war zu müde. Das Licht, das zum Westfenster hereinfiel, wurde zunehmend heißer und röter, je näher der Sonnenuntergang kam. Der Wind wehte böig und trieb raschelnde Blätter über die Veranda, die jetzt leer war, zum See hin; die Gartenmöbel waren alle im Wohnzimmer aufgestapelt. Die Pinien rauschten; die Hintertür schlug; der Hund hielt inne, dann fing er sein lärmendes Schmatzen und Reißen und Kauen wieder an.
»Ich habe solchen Durst«, sagte sie wehleidig.
Okay – dann sollten wir damit anfangen.
Sie drehte den Kopf in die andere Richtung, bis sie die letzten Sonnenstrahlen warm auf der linken Seite des Halses und dem feuchten Haar spürte, das an der Wange klebte, und dann schlug sie die Augen wieder auf. Sie sah Geralds Glas Wasser genau an, und ihr Hals stieß sofort einen ausgedörrten, ungeduldigen Schrei aus.
Beginnen wir diese Phase der Operation damit, dass wir den Hund vergessen, sagte Ruth. Der Hund macht nur, was er tun muss, um durchzukommen, und das musst du auch.
»Ich weiß nicht, ob ich ihn vergessen kann«, sagte Jessie.
Ich glaube, das kannst du, Süße – wirklich. Wenn du unter den Teppich kehren kannst, was an dem Tag geschehen ist, als die Sonne erlosch, kannst du meiner Meinung nach alles unter den Teppich kehren.
Einen Augenblick lang wäre fast alles wieder da gewesen, und sie begriff, dass sie sich an alles erinnern konnte, wenn sie es wirklich wollte. Das Geheimnis dieses Tages war nie völlig in ihr Unterbewusstsein versunken, wie es mit solchen Geheimnissen in Fernsehseifenopern und Kinomelodramen stets der Fall war; es ruhte bestenfalls in einem flachen Grab. Es war zu einer selektiven Amnesie gekommen, aber völlig freiwillig. Wenn sie sich erinnern wollte, was geschah, als die Sonne erloschen war, dann konnte sie es wahrscheinlich.
Als wäre dieser Gedanke eine Aufforderung gewesen, sah sie plötzlich vor ihrem geistigen Auge eine Vision von herzzerreißender Klarheit: eine Glasscheibe, die mit einer Grillzange festgehalten wurde. Eine Hand, die einen Grillhandschuh trug, drehte sie im Rauch eines kleinen Grünholzfeuers hierhin und dorthin.
Jessie erstarrte auf dem Bett und verdrängte das Bild.
Stellen wir eins klar, dachte sie. Sie vermutete, dass sie zur Stimme von Ruth sprach, war sich aber nicht ganz sicher; sie war sich ganz allgemein nicht mehr sicher. Ich will mich nicht erinnern. Kapiert? Die Ereignisse damals haben nicht das Geringste mit den Ereignissen heute zu tun. Sie sind längst den Bach runter. Es ist ziemlich einfach, den Zusammenhang zu sehen – zwei Seen, zwei Sommerhäuser, zwei Fälle von (Geheimnissen-Schweigen-Schmerz-Qual)
sexuellem Herumgemache – aber die Erinnerung an das, was 1963 passiert ist, nutzt mir heute überhaupt nichts, ganz davon
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