Das Spiel
Finger und faltete wieder einen Zentimeter. Sie brauchte fast drei Minuten und siebenmal Falten, bis sie zum Ende der Karte gekommen war. Als es endlich so weit war, hatte sie etwas, was wie eine linkisch aus purpurnem Papier gedrehte Granate von einem Joint aussah.
Oder, wenn man die Fantasie ein wenig anstrengte, ein Strohhalm.
Jessie steckte ihn in den Mund und versuchte, die unregelmäßige Falte mit den Zähnen zusammenzuhalten. Als sie sie so fest hatte, wie es ihrer Meinung nach nur ging, tastete sie wieder nach dem Glas.
Sei vorsichtig. Mach jetzt nicht alles durch Ungeduld kaputt!
Danke für den guten Rat. Und für den Einfall. Der war toll – das ist mein Ernst. Aber jetzt wäre es mir sehr recht, wenn du so lange den Mund halten würdest, bis ich meinen Schuss bekommen habe. Okay?
Sobald sie die glatte Oberfläche des Glases berührte, legte sie die Finger so zärtlich und behutsam wie eine junge Liebende darum, die zum ersten Mal mit der Hand in den Hosenschlitz ihres Freundes griff.
Das Glas in seiner neuen Position zu ergreifen war vergleichsweise einfach. Sie zog es her und hob es so hoch wie es die Kette zuließ. Sie sah, dass die letzten Eissplitter geschmolzen waren; die Zeit war nämlich trotz ihres Eindrucks, sie wäre stehen geblieben, seit der Hund seinen ersten Auftritt gehabt hatte, munter vorangeschritten. Aber sie wollte nicht an den Hund denken. Sie würde sich im Gegenteil die größte Mühe geben zu glauben, dass es überhaupt nie einen Hund gegeben hatte.
Du bist gut darin, etwas wegzudenken, oder nicht, Schmusi-Bussi?
He, Ruth – ich versuche, mich selbst so im Griff zu behalten wie dieses verdammte Glas, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Wenn es mir hilft, ein paar Gedankenspiele zu machen, sehe ich nicht, wo das große Problem liegen soll. Halt einfach eine Weile die Klappe, ja? Gib Ruhe, und lass mich meine Angelegenheiten erledigen.
Aber Ruth hatte offenbar nicht die Absicht, Ruhe zu geben. Halt die Klappe!, staunte sie. Junge, wie mich das in alte Zeiten zurückversetzt – besser als ein Oldie von den Beach Boys im Radio. Im Klappehalten warst du schon immer gut, Jessie – erinnerst du dich noch an die Nacht im Schlafsaal, als wir von deiner ersten und letzten Sitzung im Frauenzentrum in Neuworth zurückgekommen sind?
Ich will mich nicht erinnern, Ruth.
Das kann ich mir denken, darum werde ich mich auch für uns beide erinnern, abgemacht? Du hast gesagt, das Mädchen mit den Narben auf der Brust hat dich total durcheinandergebracht, nur das, mehr nicht, und als ich dir erzählen wollte, was du in der Küche gesagt hast – wie du und dein Vater 1963 allein in dem Haus am Dark Score Lake gewesen seid und wie die Sonne erloschen ist und er etwas mit dir gemacht hat – da hast du mir auch gesagt, ich soll die Klappe halten. Aber das habe ich nicht, und du hast versucht, mich zu schlagen. Als ich immer noch nicht aufgehört habe, hast du deinen Mantel geschnappt, bist weggelaufen und hast die Nacht anderswo verbracht – wahrscheinlich in der verlausten kleinen Blockhütte von Susie Timmel, unten am Fluss, die wir immer Susies Bumshotel genannt haben. Und bis Ende der Woche hast du dann ein paar Mädchen mit einer Wohnung in der Stadt gefunden gehabt, die noch eine Zimmergefährtin brauchten. Bumm, so schnell ging das … aber du warst schon immer schnell, wenn du erst einmal etwas beschlossen hattest, Jess, das muss ich dir lassen. Und wie schon gesagt, du warst immer gut im Klappehalten.
Halt die …
Da! Was hab ich dir gesagt?
Lass mich in Ruhe!
Das kenne ich auch ziemlich gut. Weißt du, was mir am meisten wehgetan hat, Jessie? Nicht das Vertrauen – ich wusste schon damals, dass es nichts Persönliches war, dass du der Meinung warst, du könntest niemandem die Geschichte anvertrauen, was damals passiert ist, nicht einmal dir selbst. Wehgetan hat das Wissen, wie nahe du damals in der Küche des Frauenzentrums von Neuworth daran gewesen bist, dir alles von der Seele zu reden. Wir saßen da mit dem Rücken zur Tür und den Armen umeinandergeschlungen, und du hast angefangen zu reden. Du hast gesagt: »Ich hätte es nie erzählen können, es hätte meine Mama umgebracht, und selbst wenn nicht, hätte sie ihn verlassen, und ich habe ihn doch so liebgehabt. Wir haben ihn alle liebgehabt, wir haben ihn gebraucht, sie hätten mir die Schuld gegeben, und dabei hat er ja nichts gemacht, nicht so richtig.« Ich habe dich gefragt, wer nichts gemacht hat, und es
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