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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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kam so schnell heraus, als hättest du die letzten acht Jahre darauf gewartet, dass jemand diese Frage stellt. »Mein Vater«, hast du gesagt. »Wir waren am Dark Score Lake an dem Tag, als die Sonne erloschen ist.« Du hättest mir alles erzählt – das weiß ich -, aber in diesem Augenblick ist die dumme Kuh reingekommen und hat gefragt: »Geht es ihr gut?« Als ob du ausgesehen hättest, als würde es dir gutgehen, weißt du, was ich meine? Herrgott, manchmal kann ich nicht glauben, wie dumm die Leute sein können. Man sollte ein Gesetz erlassen, wonach man einen Führerschein braucht, oder zumindest eine Zulassung, bevor man Redeerlaubnis bekommt. Und bis man seinen Redetest bestanden hat, müsste man stumm bleiben.
    Das würde eine Menge Probleme lösen. Aber so ist es eben nicht, und kaum war die Hart-Hall’s-Version von Florence Nightingale hereingeschossen, bist du zugeklappt wie eine Muschel. Ich konnte dich um nichts auf der Welt bewegen, dich wieder zu öffnen, obwohl ich es weiß Gott versucht habe.
    Du hättest mich einfach in Ruhe lassen sollen!, erwiderte Jessie. Das Glas Wasser bebte in ihrer Hand, der behelfsmäßige purpurne Strohhalm zitterte zwischen ihren Lippen. Du hättest aufhören sollen, dich einzumischen! Es ging dich nichts an!
    Manchmal können Freundinnen nichts für ihre Besorgnis, Jessie, sagte die Stimme in ihrem Inneren, und sie war so voller Freundschaft, dass Jessie schwieg. Ich habe es nachgeschlagen, weißt du. Ich habe mir zusammengereimt, wovon du gesprochen haben musstest, und habe es nachgeschlagen. Ich konnte mich überhaupt nicht an eine Sonnenfinsternis Anfang der sechziger Jahre erinnern, aber ich war selbstverständlich zu der Zeit in Florida und interessierte mich mehr für das Schnorcheln und den Bademeister von Del Mar – in den war ich verknallt, das kannst du dir nicht vorstellen – als für astronomische Phänomene. Ich glaube, ich wollte nur sicherstellen, dass das Ganze nicht ein irres Hirngespinst oder so was war – vielleicht ausgelöst von dem Mädchen mit den schrecklichen Brandnarben auf den Eutern. Es war kein Hirngespinst. Es gab eine totale Sonnenfinsternis in Maine, und euer Sommerhaus am Dark Score Lake muss genau im Pfad dieser Finsternis gelegen haben. Juli 1963. Nur ein Mädchen und ihr Dad, die die Sonnenfinsternis betrachtet haben. Du hast mir nicht sagen wollen, was der gute alte Dad mit dir gemacht hat, aber ich wusste zwei Dinge, Jessie: dass er dein Vater war, und das war schlimm, und dass du erst zehn, fast elf, gewesen bist, kurz vor der Pubertät also … und das war noch schlimmer.
    Ruth, bitte hör auf. Du hättest dir keinen schlechteren Zeitpunkt aussuchen können, diese alten Wunden wieder aufzukratzen …
    Aber Ruth ließ sich nicht aufhalten. Die Ruth, die einmal Jessies Zimmergenossin gewesen war, hatte stets gesagt, was sie wollte – jedes einzelne Wort -, und die Ruth, die jetzt Jessies Kopfgenossin war, hatte sich offenbar kein bisschen verändert.
    Und als Nächstes hast du mit diesen drei kleinen Anfänger-susen außerhalb des Campus gewohnt – Prinzessinnen in A-Line-Latzhosen und Matrosenblüschen, die zweifellos alle einen Satz Unterhosen mit aufgestickten Wochentagen besaßen. Ich glaube, etwa zu dem Zeitpunkt hast du beschlossen, mit dem Training für die Olympiade im Abstauben und Fußbodenwachsen anzufangen. Du hast die Nacht im Frauenzentrum Neuworth verdrängt, du hast Tränen und Wut und Qualen verdrängt, du hast mich verdrängt. Oh, natürlich haben wir uns ab und zu noch gesehen – haben gelegentlich eine Pizza und einen Krug Molson’s bei Pat’s geteilt -, aber unsere Freundschaft war wirklich vorbei, richtig? Als es um die Entscheidung zwischen mir und den Ereignissen vom Juli 1963 ging, hast du dich für die Eklipse entschieden.
    Das Glas Wasser zitterte heftiger.
    »Warum gerade jetzt, Ruth?«, fragte sie und merkte nicht, dass sie die Worte in dem dunklen Schlafzimmer tatsächlich laut aussprach. Warum gerade jetzt, das will ich wissen – vorausgesetzt, dass du in dieser Inkarnation wirklich ein Teil von mir bist, warum gerade jetzt? Warum zu einem Zeitpunkt, wo ich es mir am allerwenigsten leisten kann, aufgeregt und abgelenkt zu werden?
    Die offensichtlichste Antwort auf diese Frage war auch die unangenehmste: weil sie eine Feindin im Inneren hatte, ein trauriges, böses Flittchen, die sie genauso mochte, wie sie war – gefesselt, wund, durstig, ängstlich und elend -, prima so. Die diesen Zustand

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