Das Spiel
zehn Zentimeter von dem Glas entfernt. Es hätte fast gereicht, aber wie Gerald (und ihr Vater auch, wo sie gerade darüber nachdachte) immer zu sagen pflegte, knapp daneben war auch vorbei.
»Das glaube ich nicht«, hörte sie sich mit ihrer neuen, heiseren Scotch-und-Marlboro-Stimme sagen. »Das glaube ich einfach nicht.«
Plötzlich loderte Wut in ihr hoch und schrie sie mit der Stimme von Ruth Neary an, sie solle das Glas durchs Zimmer werfen; wenn sie schon nicht daraus trinken konnte, verkündete Ruths Stimme schroff, würde sie es wenigstens bestrafen; wenn sie ihren Durst nicht mit dem stillen konnte, was darin war, konnte sie wenigstens ihren Verstand mit dem Geräusch zufriedenstellen, wie es an der Wand in tausend Scherben zerschellte.
Ihr Griff um das Glas wurde fester, die Stahlkette sank zu einem schlaffen Bogen, als sie die Hand zurückzog, um genau das zu machen. Ungerecht! Es war einfach so ungerecht!
Die Stimme, die ihr dann doch Einhalt gebot, war die leise, zaghafte Stimme von Goodwife Burlingame.
Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, Jessie. Gib noch nicht auf – vielleicht gibt es doch noch eine Möglichkeit.
Ruth gab darauf keine verbale Antwort, aber das ungläubige, höhnische Schnaufen war nicht zu überhören; es war schwer wie Eisen und bitter wie ein Spritzer Blutorangensaft. Ruth wollte immer noch, dass sie das Glas warf. Nora Callighan hätte zweifellos gesagt, dass Ruth voll auf das Konzept des Heimzahlens setzte.
Beachte sie einfach nicht, sagte Goodwife. Ihre Stimme hatte ihre einstige zögernde Eigenheit abgestreift; sie hörte sich jetzt fast aufgeregt an. Stell es wieder auf das Regal, Jessie.
Und was dann?, fragte Ruth. Was dann, o Großer Weißer Guru, o Göttin der Tupperware und Schutzheilige der Kirche der Versandhauskataloge?
Goody sagte es ihr, und Ruths Stimme verstummte, während Jessie und alle anderen Stimmen in ihrem Kopf lauschten.
10
Sie stellte das Glas vorsichtig wieder aufs Regal und achtete sorgfältig darauf, dass es nicht über den Rand ragte. Ihre Zunge fühlte sich mittlerweile wie ein Stück Schmirgelpapier mit Fünferkörnung an, und ihr Hals schien vor Durst entzündet zu sein. Es erinnerte sie daran, wie sie sich im Herbst ihres zehnten Lebensjahrs gefühlt hatte, als Grippe und Bronchitis sie eineinhalb Monate ans Bett fesselten, so dass sie nicht zur Schule konnte. Während dieser Belagerung war sie manchmal in langen Nächten aus wirren, chaotischen Alpträumen erwacht, an die sie sich nicht mehr erinnern konnte,
(aber du kannst dich erinnern, Jessie, du hast von dem gerußten Glas geträumt; du hast geträumt, wie die Sonne erloschen ist; du hast von dem schalen und tränenreichen Geruch wie nach Mineralien in Quellwasser geträumt; du hast von seinen Händen geträumt)
und sie war schweißgebadet, aber zu schwach, um nach dem Krug auf dem Nachttisch zu greifen. Sie wusste noch, wie sie dagelegen hatte, äußerlich nass und klebrig und nach Fieber riechend, innerlich ausgedörrt und voll von Phantomen; wie sie dagelegen und gedacht hatte, dass ihre wahre Krankheit nicht Bronchitis war, sondern Durst. Jetzt, Jahre später, war ihr genauso zumute.
Ihr Denken wollte immer wieder zu dem schrecklichen Augenblick zurückkehren, als sie erkannt hatte, dass es ihr nicht gelingen würde, dieses letzte Restchen Distanz zwischen dem Glas und ihrem Mund zu überbrücken. Sie sah immer wieder die Luftbläschen zwischen den Eisresten, roch das schwache Aroma von Mineralien im wasserhaltigen Gestein tief unter dem See. Diese Bilder quälten sie wie ein Jucken zwischen den Schulterblättern, wo man nicht hinkam.
Dennoch zwang sie sich zu warten. Der Teil in ihr, der Goody Burlingame war, sagte ihr, dass sie sich trotz der aufreizenden Bilder und ihres rauen Halses etwas Zeit nehmen musste. Sie musste warten, bis ihr Herz langsamer schlug, bis ihre Muskeln aufhörten zu zittern, bis ihre Gefühle sich ein wenig beruhigt hatten.
Draußen erlosch die letzte Farbe am Himmel; die Welt nahm einen ernsten und melancholischen Grauton an. Auf dem See ließ der Eistaucher seinen durchdringenden Schrei im abendlichen Halbdunkel erschallen.
»Halt die Klappe, Mr. Eistaucher«, sagte Jessie und kicherte. Es hörte sich wie ein rostiges Scharnier an.
Also gut, meine Liebe, sagte Goodwife. Ich glaube, es ist Zeit für einen Versuch. Bevor es dunkel wird. Aber vorher solltest du dir noch einmal die Hände abtrocknen.
Dieses Mal krümmte sie beide
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