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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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nicht im Geringsten verändert haben wollte. Die auf jeden schmutzigen Trick zurückgreifen würde, damit es nicht so weit kam.
    Die totale Sonnenfinsternis dauerte an diesem Tag knapp über eine Minute, Jessie – aber nicht in deinem Denken. Dort findet sie immer noch statt … oder nicht?
    Sie machte die Augen zu und konzentrierte ihre gesamte Willenskraft und ihr ganzes Denken darauf, das Glas in ihrer Hand stillzuhalten. Jetzt sprach sie im Geiste und unbewusst zu Ruths Stimme, als würde sie tatsächlich zu einer anderen Person sprechen, statt zu einem Teil ihres Gehirns, der plötzlich entschieden hatte, dass es an der Zeit war, ein bisschen auf eigene Faust zu arbeiten, wie Nora Callighan es ausgedrückt haben würde.
    Lass mich in Ruhe, Ruth. Wenn du dich immer noch darüber unterhalten willst, nachdem ich getrunken habe, okay. Aber könntest du bis dahin nicht einfach …
    »… die verdammte Klappe halten«, beendete sie leise flüsternd.
    Ja, flüsterte Ruth unverzüglich. Ich weiß, dass jemand in dir ist, der versucht, Sand ins Getriebe zu streuen, und ich weiß, dass sie manchmal mit meiner Stimme spricht – sie ist zweifellos eine begnadete Bauchrednerin -, aber ich bin es nicht. Ich habe dich damals gerngehabt, und ich habe dich heute gern. Darum habe ich so lange versucht, den Kontakt zu dir nicht abreißen zu lassen … weil ich dich gerngehabt habe. Und, vermute ich, weil wir überkandidelten Flittchen zusammenhalten müssen.
    Jessie lächelte, oder versuchte es zumindest, um den behelfsmäßigen Strohhalm herum.
    Und jetzt versuch es, Jessie, mit aller Macht.
    Jessie wartete einen Augenblick, aber es kam nichts mehr. Ruth war fort, zumindest vorübergehend. Sie schlug wieder die Augen auf, dann beugte sie langsam den Kopf nach vorne, und die zusammengerollte Karte ragte ihr aus dem Mund wie das Zigarettenmundstück von Roosevelt.
    Bitte, lieber Gott, ich flehe dich an … mach, dass es klappt.
    Ihr behelfsmäßiger Strohhalm glitt in das Wasser. Jessie machte die Augen zu und saugte. Einen Augenblick lang tat sich nichts, worauf schwarze Verzweiflung wie ein lähmendes Gift in ihr hochwallte. Dann füllte Wasser ihren Mund, kühl und köstlich, und überraschte sie so, dass sie fast in Ekstase geriet. Sie hätte vor Dankbarkeit geschluchzt, wäre ihr Mund nicht so verbissen um das Ende der zusammengerollten Abokarte gepresst gewesen; so konnte sie nur ein dumpfes Tröten durch die Nase zustande bringen.
    Sie schluckte das Wasser und spürte, wie es sich wie flüssiger Satin über ihren Hals ausbreitete, dann saugte sie weiter. Dies machte sie so selbstvergessen und instinktiv wie ein hungriges Kalb, das am Euter der Mutter saugt. Ihr Strohhalm war alles andere als perfekt und lieferte nur Schlucke und Tropfen und Spritzer statt eines konstanten Stroms, und der Großteil dessen, was sie in die Röhre saugte, tropfte durch die mangelhaften Dichtungen und schiefen Falze wieder hinaus. In einer Ecke ihres Gehirns wusste sie das, konnte Wasser wie Regentropfen auf die Decke tropfen hören, aber ihr dankbarer Verstand wiegte sich weiterhin in der Überzeugung, dass ihr Strohhalm eine der größten Erfindungen war, die die Menschheit je hervorgebracht hatte, und dass dieser Augenblick, das Wasser aus dem Glas ihres toten Mannes, die Krönung ihres Lebens war.
    Trink nicht alles, Jess – heb dir etwas für später auf.
    Sie wusste nicht, welche ihrer Phantomgefährtinnen dieses Mal gesprochen hatte, und es war auch nicht wichtig. Es war ein guter Rat, aber ungefähr so, als wollte man einem achtzehnjährigen Jungen, der nach sechs Monaten Petting halb wahnsinnig war, den Rat geben, es wäre einerlei, ob sein Mädchen jetzt endlich willig war; wenn er kein Gummi dabeihatte, sollte er warten. Manchmal, stellte sie fest, war es unmöglich, auf die Ratschläge des eigenen Verstandes zu hören, so gut sie auch sein mochten. Manchmal raffte sich der Körper einfach auf und schlug alle guten Ratschläge in den Wind. Sie fand aber noch etwas anderes heraus – sich einfachen körperlichen Bedürfnissen hinzugeben, konnte eine unaussprechliche Erleichterung sein.
    Jessie saugte weiter durch die zusammengerollte Karte, kippte das Glas, damit die Wasseroberfläche über dem durchweichten, ungeschlachten purpurnen Ding blieb, und sie nahm mit einem Teil ihres Denkens zur Kenntnis, dass die Kartonrolle immer schlimmer leckte und es Wahnsinn war, nicht aufzuhören und zu warten, bis sie getrocknet war, trank aber

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