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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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eines Gastes beim Hofbankett und achtete nicht auf die Alkalitrockenheit des Gaumens oder das bittere Pulsieren des Durstes in ihrem Hals. Man konnte auf Goody herumhacken, so viel man wollte – manchmal bettelte sie förmlich darum -, aber wenn man sich unter solchen Umständen ( gerade unter solchen Umständen) mit ein wenig Anstand verhielt, konnte das nicht schaden. Sie hatte hart um das Wasser gekämpft; warum sich also nicht die Zeit nehmen und sich ehren, indem man es genoss? Der erste kalte Schluck, der über ihre Lippen floss und den heißen Teppich ihrer Zunge benetzte, schmeckte nach Triumph … und nach der Pechsträhne, die sie gerade hinter sich hatte, war das wahrlich ein Genuss, den man auskosten musste.
    Jessie führte das Glas zum Mund und konzentrierte sich auf die köstliche Nässe, die vor ihr lag, auf den löschenden Wolkenbruch. Ihre Geschmacksknospen krampften sich erwartungsvoll zusammen, sie verkrampfte die Zehen und spürte einen heftigen Puls unter dem Kiefer pochen. Sie stellte fest, dass ihre Brustwarzen steif geworden waren wie manchmal, wenn sie erregt war. Geheimnisse der weiblichen Sexualität, von denen du dir nie hättest träumen lassen, Gerald, dachte sie. Fessle mich mit Handschellen ans Bett, und nichts passiert. Aber zeig mir ein Glas Wasser, und ich werde zur hemmungslosen Nymphomanin.
    Bei dem Gedanken musste sie lächeln, und als das Glas dreißig Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt unvermittelt zum Stillstand kam, so dass Wasser auf ihren bloßen Schenkel tropfte und sie dort eine Gänsehaut bekam, wich das Lächeln zuerst nicht. In diesen ersten Sekunden spürte sie lediglich dümmliches Erstaunen und (hä?)
    Unverständnis. Was war los? Was konnte los sein?
    Das weißt du, sagte eine der UFO-Stimmen. Sie sprach mit einer ruhigen Gewissheit, die Jessie grässlich fand. Ja, sie vermutete, dass sie es irgendwo tief in ihrem Innersten wusste, aber sie wollte dieses Wissen nicht ins Rampenlicht ihres bewussten Denkens treten lassen. Einige Tatsachen waren einfach zu schlimm, um sie zur Kenntnis zu nehmen. Zu ungerecht.
    Unglücklicherweise lagen manche Tatsachen auch auf der Hand. Als Jessie das Glas ansah, dämmerte entsetztes Begreifen in ihren blutunterlaufenen, aufgequollenen Augen. Die Kette war der Grund, warum sie ihr Wasser nicht bekam. Die Kette der Handschelle war einfach zu kurz. Diese Tatsache war so offensichtlich gewesen, dass sie den Wald vor lauter Bäumen nicht gesehen hatte.
    Plötzlich musste Jessie an die Nacht denken, als George Bush zum Präsidenten gewählt worden war. Sie und Gerald waren zu einer Siegesfeier im Dachrestaurant des Hotels Sonesta eingeladen worden. Senator William Cohen war Ehrengast, und der frischgebackene Präsident, Lonesome George persönlich, sollte sich kurz vor Mitternacht per Fernsehübertragung melden. Gerald hatte für diesen Anlass eine nebelgraue Limousine gemietet, die auf die Sekunde pünktlich um sieben Uhr vorgefahren war, aber um zehn nach sieben saß sie immer noch in ihrem besten schwarzen Kleid auf dem Bett, wühlte durch ihre Schmuckschatulle und suchte fluchend nach einem speziellen Paar goldener Ohrringe. Gerald hatte ungeduldig den Kopf ins Zimmer gesteckt, um nachzusehen, was sie aufhielt, hörte ihr mit seinem »Warum seid ihr Mädels nur immer so verdammt dumm«-Ausdruck zu, den sie so hasste, und sagte dann, er wäre sich nicht sicher, glaubte aber, sie trüge die gesuchten Ohrringe bereits. Und so war es auch. Sie war sich klein und dumm vorgekommen, die perfekte Rechtfertigung für seinen väterlichen Gesichtsausdruck. Außerdem war ihr danach zumute gewesen, ihm an den Hals zu springen und ihm mit einem ihrer exquisiten, aber unbequemen hochhackigen Pumps die wunderbar ebenmäßig verkronten Zähne einzuschlagen. Was sie damals empfunden hatte, war gar nichts verglichen mit dem, was sie jetzt empfand, und wenn es jemand verdiente, die Zähne eingeschlagen zu bekommen, dann sie.
    Sie streckte den Kopf, so weit sie konnte, nach vorne und spitzte die Lippen wie die Heldin eines abgedroschenen alten Schwarz-Weiß-Kitschfilms. Sie kam dem Glas so nahe, dass sie winzige Luftbläschen zwischen den letzten Eisresten erkennen konnte, so nahe, dass sie die Mineralien in dem Brunnenwasser tatsächlich riechen konnte (oder es sich einbildete), aber nicht so nahe, dass sie daraus trinken konnte. Als sie den Punkt erreicht hatte, wo es absolut nicht weiter ging, waren ihre gespitzten Küss-mich-Lippen immer noch gut

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