Das Spiel
steifen Kuss auf die Wange, und Jessie antwortete ebenso) und ließen Tom Mahout mit dem Mädchen allein, von dem seine Frau gestern Abend gesagt hatte, dass sie »gut schmierte«.
Jessie zog Shorts und das T-Shirt mit der Aufschrift Camp Ossippee aus und das neue Kleid an. Es war hübsch (wenn man nichts gegen schreiend grelle gelbe und rote Streifen hatte), aber zu eng. Sie nahm einen Tropfen von Maddys Parfüm Marke My Sin, ein wenig vom Yodora-Deodorant ihrer Mutter und trug frischen Peppermint-Yum-Yum-Lippenstift auf. Und obwohl sie sonst nie vor dem Spiegel herumtrödelte und an sich herumzauselte (das war der Ausdruck ihrer Mutter, wie in »Maddy, hör auf, an dir herumzuzauseln, und komm da raus!«), nahm sie sich an diesem Tag Zeit, das Haar hochzustecken, weil ihr Vater ihr einmal ein Kompliment wegen dieser speziellen Frisur gemacht hatte.
Als sie die letzte Haarklammer festgesteckt hatte, griff sie nach dem Schalter des Badezimmerlichts, aber dann hielt sie inne. Das Mädchen, das sie aus dem Spiegel betrachtete, schien überhaupt kein Mädchen zu sein, sondern ein Teenager. Es lag nicht daran, wie das Sommerkleid die kleinen Wölbungen hervorhob, die erst in ein oder zwei Jahren wirklich Brüste werden würden, und es lag nicht am Lippenstift, und es war nicht ihr Haar, das sie zu einer linkischen, aber seltsam reizvollen Hochfrisur aufgetürmt hatte; es war vielmehr alles zusammen, das diesen Eindruck hervorrief, weil … was? Sie wusste es nicht. Möglicherweise lag es daran, wie das hochgesteckte Haar ihre Wangenknochen betonte. Oder an der bloßen Krümmung ihres Nackens, der so viel aufreizender war als die Fliegenstiche auf der Brust oder ihr hüftloser Knabenkörper. Oder vielleicht lag es nur am Ausdruck in ihren Augen – ein Funkeln, das bis heute verborgen oder überhaupt nicht da gewesen war.
Was auch immer, sie verweilte noch einen Augenblick, betrachtete ihr Spiegelbild, und plötzlich hörte sie ihre Mutter sagen: »Ich schwöre bei Gott, manchmal benimmst du dich, als wäre sie deine Freundin und nicht deine Tochter!«
Sie biss sich auf die rosa Unterlippe, runzelte ein wenig die Stirn und musste an den Abend zuvor denken – das Kribbeln, das sie bei seiner Berührung empfunden hatte, den Druck seiner Hände auf den Brüsten. Sie konnte spüren, wie sich dieses Kribbeln wieder einstellen wollte, ließ es aber nicht zu. Es hatte keinen Zweck, wegen alberner Sachen zu zittern, die man sowieso nicht verstehen konnte. Über die man nicht einmal nachdenken konnte.
Ein guter Rat, dachte sie, drehte sich um und schaltete das Badezimmerlicht aus.
Sie wurde immer aufgeregter, während der Mittag verging, der Nachmittag verstrich und der Zeitpunkt der Sonnenfinsternis immer näher rückte. Sie schaltete WNCH im Kofferradio ein, den lokalen Rock-and-Roll-Sender. Ihre Mutter verabscheute’NCH und zwang denjenigen, der ihn eingestellt hatte (normalerweise Jessie oder Maddy, aber manchmal auch Will), den Sender mit klassischer Musik einzuschalten, der vom Gipfel des Mount Washington sendete, wenn Del Shannon oder DeeDee Sharp oder Gary »U.S.« Bonds dreißig Minuten gesungen hatten, aber heute schien ihrem Vater die Musik tatsächlich zu gefallen, er schnippte mit den Fingern und sang mit. Einmal, während die Duprees ihre Version von »You Belong to Me« zum Besten gaben, zog er Jessie sogar kurz in die Arme und tanzte mit ihr über die Veranda. Jessie warf den Grill gegen halb vier an, als der Beginn der Sonnenfinsternis noch über eine Stunde entfernt war, und ging ihren Vater fragen, ob er einen oder zwei Hamburger wollte.
Sie fand ihn auf der Südseite des Hauses unter der Veranda, auf der sie stand. Er trug nur Baumwollshorts (TURNMANN-SCHAFT YALE stand auf einem Bein) und einen gesteppten Grillhandschuh. Um die Stirn hatte er ein Band geschlungen, damit ihm der Schweiß nicht in die Augen lief. Er kauerte über einem kleinen qualmenden Grünholzfeuer. Die Kombination von Shorts und Stirnband verlieh ihm einen seltsamen, aber hübschen jugendlichen Ausdruck; Jessie konnte zum ersten Mal in ihrem Leben den Mann sehen, in den sich ihre Mutter im Sommer des letzten Semesters verliebt hatte.
Mehrere Glasscheiben – die er sorgfältig aus dem bröckelnden Kitt des alten Schuppenfensters gebrochen hatte – waren neben ihm aufgestapelt. Eine hielt er in den Qualm des Feuers und drehte die Scheibe mit der Grillzange hierhin und dorthin wie eine ganz besondere Lagerfeuerköstlichkeit. Jessie
Weitere Kostenlose Bücher