Das Spiel
erinnern, dass sie ihm genau das unter einem Regen heißer, ängstlicher Tränen versprochen hatte. Schließlich hatte er aufgehört, den Kopf zu schütteln, und nur noch mit zusammengekniffenen Augen und aufeinandergepressten Lippen durch das Zimmer gesehen – das bekam sie im Spiegel mit, was er mit ziemlicher Sicherheit auch gewusst hatte.
»Du dürftest es nie jemandem erzählen«, hatte er schließlich gesagt, und Jessie erinnerte sich noch an die grenzenlose Erleichterung, die sie bei diesen Worten empfunden hatte. Was er sagte, war nicht so wichtig wie der Ton, in dem er es sagte. Jessie hatte diesen Ton schon häufig gehört und wusste, es machte ihre Mutter rasend, dass sie, Jessie, ihn öfter dazu brachte, so zu sprechen, als Sally selbst. »Ich ändere meine Meinung«, sagte er. »Ich mache es wider besseren Wissens, aber ich ändere sie; ich schlage mich auf deine Seite.«
»Nein«, hatte sie zugestimmt. Ihre Stimme klang zitternd, sie musste Tränen hinunterschlucken. »Ich sage es nicht, Daddy – niemals.«
»Nicht nur deiner Mutter nicht«, sagte er. »Niemandem. Niemals. Das ist eine große Verantwortung für ein kleines Mädchen, Punkin. Du könntest in Versuchung geführt werden. Wenn du zum Beispiel mit Caroline Cline oder Tammy Hough nach der Schule lernst und eine dir ein Geheimnis von sich anvertraut, könntest du vielleicht erzählen …«
»Denen? Nie-nie-nie!«
Er musste ihrem Gesicht angesehen haben, dass es die Wahrheit war: Der Gedanke, dass Caroline oder Tammy herausfinden konnten, dass ihr Vater sie angefasst hatte, erfüllte Jessie mit Grauen. Nachdem er dieses Thema zu seiner Zufriedenheit abgehakt hatte, kam er zu seinem, wie sie meinte, Hauptanliegen.
»Oder deiner Schwester.« Er hob sie von sich weg und sah ihr lange streng ins Gesicht. »Der Zeitpunkt könnte kommen, wenn du ihr sagen möchtest …«
»Daddy, nein, ich würde nie …«
Er schüttelte sie behutsam. »Sei still, und lass mich ausreden, Punkin. Ihr beiden steht euch nahe, das weiß ich, und ich weiß auch, dass Mädchen manchmal eine Neigung verspüren, einander Dinge anzuvertrauen, die sie normalerweise nie erzählen würden. Wenn dir so mit Maddy zumute wäre, könntest du trotzdem den Mund halten?«
»Ja!« In ihrem verzweifelten Verlangen, ihn zu überzeugen, hatte sie wieder angefangen zu weinen. Logischerweise war es wahrscheinlicher, dass sie es Maddy erzählen würde – wenn es jemanden auf der Welt gab, dem sie eines Tages so ein verzweifeltes Geheimnis anvertrauen würde, dann ihrer großen Schwester … bis auf eins. Maddy und Sally standen sich ebenso nahe wie Jessie und Tom, und wenn Jessie ihrer großen Schwester je erzählen würde, was sich auf der Veranda abgespielt hatte, standen die Chancen ziemlich gut, dass ihre Mutter es erfahren würde, noch ehe der Tag zu Ende war. Mit dieser Einsicht glaubte Jessie, dass sie der Versuchung, Maddy einzuweihen, leicht widerstehen konnte.
»Bist du dir wirklich ganz sicher?«, fragte er zweifelnd.
»Ja! Wirklich!«
Er hatte wieder angefangen, den Kopf auf die bedauerliche Weise zu schütteln, die sie in panische Angst versetzte. »Ich finde nur, Punkin, es wäre besser, alles gleich ans Licht zu bringen. Die bittere Medizin zu schlucken. Ich meine, sie kann uns ja nicht umbringen …«
Jessie hatte allerdings ihre Wut gehört, als Daddy sie gebeten hatte, Jessie von der Reise zum Mount Washington auszunehmen … und Wut war nicht alles. Sie dachte nicht gerne daran, aber im Augenblick konnte sie sich den Luxus, so etwas zu übersehen, nicht leisten. In der Stimme ihrer Mutter hatte auch Eifersucht und etwas, was Hass ziemlich nahe kam, mitgeklungen. Eine vorübergehende Vision von bestechender Klarheit suchte Jessie heim, während sie mit ihrem Vater unter der Schlafzimmertür stand und ihn zu überreden versuchte, den Mund zu halten: Sie beide verstoßen und auf der Straße wie Hänsel und Gretel, heimatlos und per Anhalter kreuz und quer durch Amerika unterwegs …
… und selbstverständlich schliefen sie zusammen. Nachts schliefen sie zusammen.
Da war sie völlig zusammengebrochen, hatte hysterisch geweint, ihn angefleht, nichts zu sagen, und ihm versprochen, sie würde für immer und ewig ein braves Mädchen sein, wenn er nur nichts sagte. Er hatte sie weinen lassen, bis er der Meinung war, der Zeitpunkt wäre genau richtig, und dann hatte er ernst gesagt: »Weißt du, du hast eine große Überzeugungskraft für ein kleines Mädchen,
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