Das Spiel
Probleme mit dem Trinken hatte, sind sie jetzt auf jeden Fall geheilt, oder nicht?
Das Glas stand selbstverständlich noch genau dort, wo sie es abgestellt hatte; wenn ihr nächtlicher Besucher kein Traum gewesen war (Mach dich nicht lächerlich, selbstverständlich war er ein Traum, sagte Goodwife nervös), schien er keinen Durst gehabt zu haben.
Ich werde dieses Glas holen, dachte sie grimmig. Und ich werde außerordentlich vorsichtig sein, falls ich wieder Muskelkrämpfe bekomme. Noch Fragen?
Keine, und dieses Mal war es ein Kinderspiel, das Glas zu holen. Zunächst einmal konnte sie es jetzt viel leichter erreichen – der Balanceakt entfiel. Als sie den behelfsmäßigen Strohhalm holte, bemerkte sie noch einen Sonderbonus. Beim Trocknen war die Abokarte an den Falzkanten wellig geworden. Dieses seltsame geometrische Gebilde sah wie Freistil-Origami aus und funktionierte viel besser als in der vergangenen Nacht. Den letzten Rest Wasser zu trinken war noch einfacher, als das Glas zu holen, und während Jessie das Malt-Shoppe-Schlurpsen vom Grund des Glases hörte, als sie mit dem Strohhalm die letzten Tropfen aufsaugen wollte, fiel ihr ein, dass sie viel weniger Wasser auf die Decke getropft hätte, hätte sie gewusst, wie man den Strohhalm »heilen« konnte. Aber jetzt war es zu spät, und es hatte keinen Sinn, über verschüttetes Wasser zu weinen.
Die wenigen Tropfen reichten kaum aus, ihren Durst mehr als richtig zu wecken, aber damit würde sie leben müssen. Sie stellte das Glas wieder auf das Regal, dann lachte sie über sich selbst. Gewohnheiten waren zähe kleine Biester. Selbst unter so bizarren Umständen wie diesen waren sie zähe kleine Biester. Sie hatte wieder einen totalen Krampf riskiert, als sie das leere Glas aufs Regal zurückstellte, statt es einfach über die Seite des Betts zu werfen und auf dem Boden zerschellen zu lassen. Und warum? Weil Ordnung das halbe Leben war, darum. Das hatte Sally Mahout ihrer Süßen beigebracht, die sich nie mit etwas zufriedengab und immer gut schmierte, damit sie ihren Willen durchsetzte – ihre kleine Süße, die willens gewesen war, alles zu machen, einschließlich ihren eigenen Vater zu verführen, damit es auch weiterhin nach ihrem Kopf ging.
Vor ihrem geistigen Auge sah Jessie die Sally Mahout, die sie damals so oft gesehen hatte: vor Verzweiflung gerötete Wangen, fest zusammengepresste Lippen, Hände in die Hüften gestemmt und zu Fäusten geballt.
»Und du hättest es auch geglaubt«, sagte Jessie leise. »Oder nicht, Miststück?«
Unfair, antwortete ein Teil ihres Verstands unbehaglich. Unfair, Jessie!
Aber es war fair, das wusste sie genau. Sally war alles andere als eine ideale Mutter gewesen, besonders in den Jahren, als sich ihre Ehe mit Tom Mahout dahingeschleppt hatte wie ein altes Auto mit Sand im Getriebe. In diesen Jahren war ihr Verhalten oft paranoid gewesen, manchmal sogar irrational. Will waren die Tiraden und Anschuldigungen aus unerfindlichen Gründen fast völlig erspart geblieben, aber ihren beiden Töchtern hatte sie manchmal schlimme Angst eingejagt.
Diese dunkle Seite war jetzt verschwunden. Die Briefe, die Jessie aus Arizona bekam, waren die banalen, langweiligen Mitteilungen einer alten Frau, die nur für das Bingo donnerstagsabends lebte und die Jahre der Kindererziehung als friedliche, glückliche Zeit sah. Sie konnte sich offenbar nicht mehr erinnern, dass sie, was die Lunge hergab, geschrien hatte, sie würde Maddy umbringen, wenn sie noch einmal vergaß, ihre gebrauchten Tampons in Toilettenpapier einzuwickeln, bevor sie sie in den Mülleimer warf, oder den Sonntag vormittag, als sie – aus Gründen, die Jessie bis heute ein Rätsel geblieben waren – in Jessies Zimmer gestürmt war, ihr ein Paar hochhackige Schuhe hingeworfen hatte und wieder hinausgestürmt war.
Wenn Jessie Briefe und Postkarten von ihrer Mutter bekam – hier ist alles so schön, Liebes, habe von Maddy gehört, sie schreibt so regelmäßig, mein Appetit ist besser, seit es kühler geworden ist -, verspürte sie manchmal den Drang, zum Telefon zu greifen und ihre Mutter anzurufen und zu schreien: Hast du denn alles vergessen, Mama? Hast du vergessen, dass du mir eines Tages die Schuhe nachgeworfen und meine Lieblingsvase kaputt gemacht hast und ich geweint habe, weil ich dachte, du wüsstest es, er wäre schließlich doch zusammengebrochen und hätte dir alles gesagt, obwohl da seit dem Tag der Sonnenfinsternis schon vier Jahre vergangen waren?
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