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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zuknöpfte, spürte sie noch ein anderes Gefühl darunter. Dieses Gefühl war Wut, und es unterschied sich nicht sehr von der bohrenden Wut, die sie Jahre später empfinden sollte, als ihr klarwurde, dass Gerald wusste, es war ihr ernst mit dem, was sie sagte, aber so tat, als würde er es nicht bemerken. Sie war wütend, weil sie es nicht verdient hatte, dass sie Scham und Angst empfand. Schließlich war er der Erwachsene, er war derjenige, der den komisch riechenden Glibber auf ihre Unterhose gemacht hatte, er war derjenige, der sich schämen sollte, aber so lief es nicht. So lief es ganz und gar nicht.
    Als sie die Bluse zugeknöpft und in die Shorts gesteckt hatte, war die Wut verraucht oder – ein und dasselbe – in ihre Höhle zurückverbannt worden. Aber sie sah immer noch im Geiste, dass ihre Mutter früher zurückkam. Es würde keine Rolle spielen, dass sie wieder völlig angezogen war. Die Tatsache, dass etwas Schlimmes passiert war, stand ihnen ins Gesicht geschrieben, überdeutlich, überlebensgroß und hässlich wie die Nacht. Sie sah es seinem Gesicht an und spürte es auf ihrem.
    »Alles in Ordnung, Jessie?«, fragte er leise. »Fühlst du dich nicht geschwächt oder so?«
    »Nein«. Sie versuchte zu lächeln, aber dieses Mal gelang es ihr nicht ganz. Sie spürte eine Träne die Wange hinabrinnen und wischte sie hastig und schuldbewusst mit dem Handrücken weg.
    »Es tut mir leid.« Seine Stimme zitterte, und sie sah zu ihrem Entsetzten Tränen in seinen Augen stehen – oh, es wurde immer schlimmer und schlimmer. »Es tut mir leid.« Er drehte sich unvermittelt um, duckte sich ins Bad, zog ein Handtuch vom Regal und wischte sich damit das Gesicht ab. Während er das machte, dachte Jessie angestrengt und krampfhaft nach.
    »Daddy?«
    Er sah sie über das Handtuch hinweg an. Die Tränen in seinen Augen waren fort. Wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie geschworen, dass sie nie da gewesen waren.
    Die Frage blieb ihr fast im Hals stecken, aber sie musste gestellt werden. Musste einfach.
    »Müssen wir … müssen wir Mama davon erzählen?«
    Er holte tief seufzend und zitternd Luft. Sie wartete mit klopfendem Herzen, und als er sagte: »Ich glaube, das müssen wir, oder nicht?«, da rutschte es ihr fast in die Hose.
    Sie ging durch das Zimmer zu ihm, strauchelte ein wenig – ihre Beine schienen völlig gefühllos zu sein – und schlang die Arme um ihn. Bitte, Daddy. Nicht. Bitte, sag es ihr nicht. Bitte nicht. »Bitte …« Ihre Stimme brach, ging in Schluchzen über, und sie drückte das Gesicht an seine bloße Brust.
    Nach einem Augenblick legte er die Arme um sie, dieses Mal auf die alte, väterliche Weise.
    »Ich mache es nicht gern«, sagte er, »weil es in letzter Zeit zwischen uns beiden nicht zum Besten steht, Liebes. Es würde mich überraschen, wenn du das nicht schon wüsstest. So etwas könnte alles noch viel schlimmer machen. Sie war in letzter Zeit ziemlich … nun, ziemlich abweisend, und das war heute weitgehend das Problem. Ein Mann hat … bestimmte Bedürfnisse. Das wirst du eines Tages verstehen …«
    »Aber wenn sie es herausfindet, wird sie sagen, dass es meine Schuld war!«
    »O nein – das glaube ich nicht«, sagte Tom, aber sein Tonfall war überrascht, nachdenklich … und für Jessie so grauenhaft wie ein Todesurteil. »Nei-eiiin … ich bin mir sicher – nun, ziemlich sicher -, dass sie …«
    Sie sah mit tränenden roten Augen zu ihm auf. »Bitte, sag es ihr nicht, Daddy! Bitte nicht! Bitte nicht!«
    Er küsste sie auf die Stirn. »Aber Jessie … ich muss. Wir müssen.«
    »Warum? Warum, Daddy?«
    »Weil …«

22
     
     
     
    Jessie bewegte sich ein wenig. Die Ketten klirrten; die Handschellen rasselten an den Bettpfosten. Licht strömte mittlerweile durch die Ostfenster herein.
    »›Weil du es nicht geheim halten könntest‹«, sagte sie verdrossen. »›Und wenn es herauskommt, Jessie, ist es für uns beide besser, wenn es jetzt herauskommt, und nicht in einer Woche oder einem Monat oder einem Jahr. Oder in zehn Jahren.‹«
    Wie hervorragend er sie manipuliert hatte – erst die Entschuldigung, dann die Tränen und zum Schluss der Clou: sein Problem zu ihrem Problem zu machen. Bruder Fuchs, Bruder Fuchs, was du auch machst, wirf mich in den Dornenbusch! Bis sie ihm schließlich geschworen hatte, sie würde das Geheimnis ewig hüten, nicht einmal Folterknechte könnten es mit Zangen und heißen Kohlen aus ihr herausholen.
    Sie konnte sich sogar

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