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Das Spiel

Das Spiel

Titel: Das Spiel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Hast du vergessen, wie oft du uns mit deinen Schreien und deinen Tränen Angst gemacht hast?
    Das ist unfair, Jessie. Unfair und untreu.
    Es mag unfair sein, aber deshalb ist es noch lange nicht gelogen.
    Wenn sie gewusst hätte, was an dem Tag passiert war …
    Das Bild der Frau am Pranger fiel Jessie wieder ein, es kam und ging so schnell, dass es fast nicht zu erkennen war, wie Werbung im Unterbewusstsein: die festgeklammerten Hände, das Haar, das wie ein Bußschleier ins Gesicht hing, die kleine Gruppe deutender, verächtlicher Menschen. Überwiegend Frauen.
    Ihre Mutter hätte es vielleicht nicht direkt ausgesprochen, aber, ja – sie hätte geglaubt, dass es Jessies Schuld war und hätte es wahrscheinlich wirklich für eine absichtliche Verführung gehalten. Von einer Nervensäge, die gut schmierte, war es schließlich nur ein kleiner Schritt zu einer Lolita, oder nicht? Und das Wissen, dass sich etwas Sexuelles zwischen ihrem Mann und ihrer Tochter abgespielt hatte, hätte sie wahrscheinlich veranlasst, nicht nur darüber nachzudenken, ihn zu verlassen, sondern es auch tatsächlich zu tun.
    Geglaubt? Jede Wette, dass sie es geglaubt hätte.
    Dieses Mal machte sich die Stimme des Anstands nicht einmal die Mühe auch nur einer rhetorischen Antwort, und da hatte Jessie eine plötzliche Einsicht: Ihrem Vater war sofort klar gewesen, wofür sie dreißig Jahre gebraucht hatte, bis sie dahintergekommen war. Er hatte den wahren Sachverhalt ebenso gekannt, wie er von der seltsamen Akustik des Wohn-/ Esszimmers gewusst hatte.
    Ihr Vater hatte sie an diesem Tag in mehr als nur einer Hinsicht missbraucht.
    Jessie rechnete mit einer Flut negativer Emotionen angesichts dieser traurigen Erkenntnis; immerhin war sie von dem Mann, dessen vordringlichste Aufgabe gewesen wäre, sie zu lieben und beschützen, zum Narren gehalten worden. Aber die Flut blieb aus. Vielleicht lag es daran, dass sie immer noch von Endorphinen aufgepeitscht war, aber sie hatte eine Ahnung, als hätte es mehr mit Erleichterung zu tun: So verdorben die Sache auch gewesen sein mochte, sie hatte sie endlich überwunden. Ihre Träume waren gar keine Träume gewesen, überhaupt nicht, sondern kaum verkleidete Erinnerungen. Ihre hauptsächlichen Empfindungen waren Staunen, dass sie das Geheimnis so lange gehütet hatte, und eine Art unbehagliche Verwirrung. Wie viele Entscheidungen, die sie seit damals getroffen hatte, waren direkt oder indirekt von dem beeinflusst worden, was während der Minute oder so geschehen war, als sie auf Daddys Schoß saß und das große runde Mal am Himmel durch zwei oder drei Scheiben rußgeschwärztes Glas betrachtet hatte? War ihre momentane Situation eine Folge dessen, was sich während der Sonnenfinsternis zugetragen hatte?
    Oh, das ist zu viel, dachte sie. Wenn er mich vergewaltigt hätte, wäre es vielleicht etwas anderes. Aber was an dem Tag auf der Veranda passiert ist, war auch nur ein Unfall, und obendrein nicht einmal ein besonders schlimmer – wenn du wissen willst, was ein ernster Unfall ist, Jessie, dann sieh dir mal die Situation an, in der du jetzt steckst. Ich könnte ebenso gut Mrs. Gilette wegen der Ohrfeige bei der Teegesellschaft auf ihrer Sonnenterrasse die Schuld geben, als ich vier war. Oder einem Gedanken, den ich auf dem Weg durch den Geburtskanal hatte. Oder Sünden aus einem früheren Leben, die noch ungesühnt waren. Außerdem war das, was er auf der Veranda mit mir gemacht hat, nichts im Vergleich mit dem, was er dann im Schlafzimmer gemacht hat.
    Und diesen Teil musste sie nicht träumen; er war da, vollkommen klar und vollkommen zugänglich.

21
     
     
     
    Als sie aufblickte und ihren Vater unter der Schlafzimmertür stehen sah, war ihre erste, instinktive Geste, die Arme vor der Brust zu verschränken. Dann sah sie seinen traurigen und schuldbewussten Gesichtsausdruck und ließ sie wieder sinken, obwohl sie selbst Wärme in die Wangen schießen spürte und wusste, dass ihr eigenes Gesicht die unschöne, fleckige Rottönung annahm, die ihre Version eines jüngferlichen Errötens war. Sie hatte da oben nichts vorzuweisen (nun, fast nichts), aber sie kam sich dennoch nackter als nackt vor und so verlegen, dass sie fast schwören konnte, sie spürte ihre Haut kochen. Sie dachte: Angenommen, die anderen kommen früher zurück? Angenommen, sie käme in diesem Augenblick herein und würde mich ohne Hemd sehen?
    Verlegenheit wurde zu Scham, Scham wurde zu Angst, aber als sie die Bluse überstreifte und

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