Das Spiel
zu. Ihr Gesicht hatte einen verschlossenen, störrischen Ausdruck. Nicht mehr, dachte sie. Ich glaube, ich kann mit den Stimmen von Ruth und Goodwife leben, wenn es sein muss … sogar mit den verschiedenen UFOs, die ab und zu ihren Senf dazugeben … aber ein Interview mit Bryant Gumbel, während ich nur ein Paar pipifleckiger Unterhosen anhabe, das ist zu viel. Das ist selbst in meiner Fantasie zu viel.
Sag mir nur eins, Jessie, sagte eine andere Stimme . Kein UFO; es war die Stimme von Nora Callighan. Nur eins, dann betrachten wir das Thema als erledigt, zumindest für jetzt, vielleicht sogar für immer. Okay?
Jessie blieb stumm, abwartend, argwöhnisch.
Als du gestern Nachmittag schließlich die Beherrschung verloren hast – als du endlich um dich getreten hast -, nach wem hast du da getreten? Nach Gerald?
»Selbstverständlich nach Ger…«, begann sie, aber dann verstummte sie, als ein einziges, vollkommen klares Bild vor ihrem geistigen Auge stand. Es war der weiße Speichelfaden, der von Geralds Kinn hing. Sie sah, wie er länger wurde, wie er über dem Nabel auf ihren Bauch tropfte. Nur ein bisschen Spucke, das war alles, nichts Besonderes nach jahrelangen leidenschaftlichen Küssen mit offenen Mündern und Zungen; sie und Gerald hatten eine Menge Körperflüssigkeiten ausgetauscht, und der einzige Preis dafür war ab und zu einmal eine gemeinsame Erkältung gewesen.
Nichts Besonderes, bis heute, als er sich geweigert hatte, sie loszulassen, als sie losgebunden werden wollte, losgebunden werden musste. Nichts Besonderes, bis sie diesen schalen, traurigen Mineraliengeruch wahrgenommen hatte, den sie mit dem Brunnenwasser am Dark Score assoziierte, und mit dem See selbst an heißen Sommertagen … an Tagen wie dem 20. Juli 1963, zum Beispiel.
Sie hatte Spucke gesehen; sie hatte an Saft gedacht .
Nein, das stimmt nicht, dachte sie, aber dieses Mal musste sie nicht Ruth herbeizitieren, damit diese den Advocatus Diaboli spielte; sie wusste, dass es stimmte. Es ist sein gottverdammter Saft - das war ihr exakter Gedanke gewesen, und danach hatte sie völlig aufgehört zu denken, jedenfalls vorübergehend. Anstatt zu denken, hatte sie zu ihrem unwillkürlichen Gegenschlag ausgeholt und ihm mit einem Fuß in den Magen und mit dem anderen in die Eier getreten. Keine Spucke, sondern Saft; kein Ekel wegen Geralds Spiel, sondern das alte, stinkende Grauen, das plötzlich wieder wie ein Seeungeheuer an die Oberfläche gekommen war.
Jessie betrachtete den eingefallenen, verstümmelten Leichnam ihres Mannes. Tränen kribbelten ihr einen Moment lang in den Augen, aber dann ging das Gefühl vorbei. Sie hatte den Verdacht, dass das Überlebensministerium beschlossen hatte, Tränen seien ein Luxus, den sie sich derzeit nicht leisten könne. Dennoch war sie traurig – traurig, weil Gerald tot war, ja, selbstverständlich, aber noch trauriger, dass sie hier war, in dieser Situation.
Jessie sah ein klein wenig über Gerald hinaus ins Leere und brachte ein klägliches, gequältes Lächeln zustande.
»Ich glaube, mehr habe ich dazu im Augenblick nicht zu sagen, Bryant. Bestellen Sie Willard und Katie meine Grüße, und nebenbei – würde es Ihnen etwas ausmachen, diese Handschellen aufzuschließen, bevor Sie gehen? Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden.«
Bryant antwortete nicht. Was Jessie nicht im Geringsten überraschte.
23
Wenn du dieses Erlebnis überleben solltest, Jess, schlage ich vor, dass du aufhörst, die Vergangenheit zu beschwören, und dich endlich entscheidest, was du mit der Zukunft anstellen willst … angefangen mit den nächsten zehn Minuten oder so. Ich glaube nicht, dass es besonders angenehm wäre, auf diesem Bett zu verdursten, du etwa?
Nein, nicht sehr angenehm … und sie dachte, Durst wäre wahrscheinlich bei weitem nicht das Schlimmste. Seit sie erwacht war, ging ihr der Gedanke an Kreuzigung nicht mehr aus dem Kopf, er trieb auf und ab wie ein hässliches ertrunkenes Ding, das zu sehr mit Wasser vollgesogen war, als dass es bis ganz an die Oberfläche gekommen wäre. Sie hatte für eine Geschichtsarbeit am College einmal etwas über diese reizende alte Foltermethode nachgelesen und zu ihrer Überraschung festgestellt, dass der alte Nägel-durch-Hände-und-Füße-Trick erst der Anfang war. Wie Zeitschriftenabos und Taschenrechner war Kreuzigung ein Geschenk, das ein Quell unerschöpflicher Freude sein konnte.
Richtig hart wurde es erst, wenn Krämpfe und Muskelspasmen
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