Das Spiel
oder?«, sagte Alex.
Julia lächelte den beiden noch einmal zu, dann drehte sie sich hastig um. Die Studenten durften auf keinen Fall sehen, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.
Mum hatte ihnen immer Gutenachtgeschichten erzählt und ihr Leben lang war Julia eingeschlafen mit der Erkenntnis: Alles wird gut! Trotz vergifteter Äpfel, verzauberter Spindeln, schwarzer Königinnen und böser Hexen. Aber jetzt begriff sie: Ein Happy End war nichts als eine Erfindung von Geschichtenerzählern. Es waren die Albträume, die wahr wurden.
Blindlings bahnte sie sich einen Weg durch die Menge. Das Stimmengewirr um sie herum nahm an Lautstärke zu, hüllte sie ein. Unverständliche Worte, Gelächter und geflüsterte Bemerkungen.
»Sie ist seltsam, oder?« Eine einzelne Stimme schwebte über den anderen, ohne dass Julia sie genau hätte zuordnen können. »Etwas stimmt nicht mit ihr. Und was immer sie für ein Geheimnis hat, ich finde es in jedem Fall heraus.«
Julia wirbelte herum. Doch Alex und Isabel achteten nicht mehr auf sie. Und sie konnte in der überfüllten Halle beim besten Willen nicht ausmachen, ob es einer von ihnen gewesen war, der das gesagt hatte.
Kapitel 8
Am Tag der Bootshausparty herrschte ungewöhnlich gutes Wetter. Der Himmel war von einem gleichmäßigen, kräftigen Blau, wie Julia es in der Großstadt, in der sie geboren worden war, nie erlebt hatte.
Es war der vierte Tag für sie im Tal und sie hatte zum ersten Mal eine ganze Nacht durchgeschlafen. War das der Grund dafür, dass das beklemmende Gefühl sich im Laufe des Tages auflöste? Oder hatte sie sich nur von der Atmosphäre des Ortes und ihrem schlechten Start hier einschüchtern lassen?
Heute, im Schein der strahlenden Sonne, hatte das College jedenfalls wie verwandelt gewirkt – die alten Apartments lichtdurchflutet, die Unterrichtsräume aufregend modern, und mit einem Mal hatte Julia das Bergpanorama als atemberaubend empfunden und der See war ihr auf wunderbare Weise mysteriös und traumhaft schön erschienen.
Selbst Robert war heute aufgetaut und hatte Julia während der Lunchpause erzählt, wie großartig Professor Vernon war und wie cool er ihn fand.
»Weißt du«, sagte er, »Vernon meint, Mathematik sei lediglich eine Sache der Logik, nur leider würde dies nicht der Arbeitsweise des menschlichen Gehirns entsprechen. Das sei das ganze Problem.«
»Na ja«, hatte Julia geantwortet und ihm zugezwinkert. »Das ist wirklich blöd!«
Inzwischen war es spät geworden und nach dem Abendessen hatte sich Julia in ihr Zimmer zurückgezogen. Unschlüssig starrte sie in den Kleiderschrank. Was sollte sie nur zu der Party anziehen? Sie konnte sich nicht entscheiden. Ein Kleid? Nein – overdressed ging gar nicht. Oder einfach nur Jeans? Langweilig, und angesichts ihrer Stimmung ging ihr dieses ewige Understatement auf die Nerven. Einfach nur mal relaxen, dachte sie, riss so gut wie die Hälfte ihrer Sachen aus dem Schrank und verteilte sie auf dem Boden.
Morgens war sie wieder am See joggen gewesen, diesmal mit Katie, wobei die Koreanerin so gut wie kein Wort geredet hatte. Aber das war Julia nur recht.
Danach war der Tag vollgepackt gewesen mit Kursen. Mann, der Stoff kam ihr schon zu den Ohren heraus. War es das, was Julia aus diesem merkwürdigen Schwebezustand der letzten Tage gerissen hatte? Alltag, Ablenkung. Anstrengung?
Zuerst Philosophie bei Professor Brandon, anschließend Grundkurs Physik I, den alle Freshmen besuchten, bis auf diejenigen, die wie Robert oder David den mathematischen Schwerpunkt gewählt hatten.
Dann besuchte Julia ihr erstes Literaturseminar, wo sie mit der Dozentin Mrs Hill, Isabels Mutter, eine ewig lange Literaturliste von Shakespeare bis hin zur Moderne durchgingen, die die Studenten für das nächste Semester lesen mussten. Dann nach der Mittagspause, die sie faul draußen auf dem Rasen in der Sonne verbrachte, kam sie fast zu spät zu ihrem Soziologiekurs. Nachmittags gab es dann noch eine weitere Einführungsveranstaltung für alle Freshmen zum Thema Studienschwerpunkte und Wahlveranstaltungen im ersten Jahr, die Alex abhielt, und kurz vor dem Abendessen fuhr Julia auf Anraten von Mrs Hill mit dem Aufzug ins zweite Untergeschoss, um sich in den Räumen des Grace Chronicles für eine Mitarbeit bei der Collegezeitung zu bewerben. In den Redaktionsbüros war sie zu ihrer Überraschung nicht nur auf Benjamin gestoßen, der das Gleiche vorhatte, sondern auch auf Angela Finder, die Rollstuhlfahrerin.
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